„Der Steppenwolf“ von Goyo Montero. Tanz: Ballett des Staatstheaters Nürnberg

Aufforderung zum Handeln

Goyo Monteros „Der Steppenwolf“ am Staatstheater Nürnberg

Das dystopische Geschehen auf der Bühne dient insofern nur als fantastische Repräsentation jener Wirklichkeit, die sich als Wirklichkeit eines „Wolfs“ sieht. Durch das Stück schleift Montero „Harry Haller“ oder gleich das Publikum mit Hilfe einer betörenden mephistotelischen Figur.

Nürnberg, 20/12/2023

Sind es die Schlagzeilen der BILD-Zeitung, die einem jeden Tag an Bahnhöfen und Tankstellen oder im Netz entgegenschreien? Oder die in den sozialen Medien fortlaufend ausgespuckten Stories, Meldungen und Verlautbarungen über Maßnahmen, Beschlüsse und Veränderungen in rascher Abfolge, die manche bis zu hundertfünfzig Mal am Tag aus dem kleinen Screen in der Hand direkt in ihr Gehirn tropfen lassen?

Die Omnipräsenz dieses ohrenbetäubenden Redens, Feststellens, Meinens, Findens und Forderns, dargestellt in großen verzerrten Lettern und Fotos, erzeugt ein den Herzschlag beschleunigendes, dumpfes Sägen, Hämmern und Rauschen. Und all das steht in reziproker Verbindung zu jenem Tempo und Timbre, das man seit dem vergangenen Wochenende in Goyo Monteros neuestem Wurf am Staatstheater Nürnberg erleben kann. Das Stück mit dem Titel „Steppenwolf“ nach dem gleichnamigen Roman von Herman Hesse aus dem Jahr 1927 funktioniert wie ein schnell geschnittener Videoclip, mit Anleihen bei Peeping Tom oder gar Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“, verfilmt von Stanley Kubrick unter dem Titel „Eyes Wide Shut“. Hier übernehmen die scharf aneinander und wie im Traum aufpoppenden Bilder, erzeugt durch Tanz, Schauspiel, Sprache, Masken und Gesang oder durch riesige Projektionen von großer oder kleiner Laufschrift, in denen die Worte „kill“, „war“, „the end“ blinken, oder gar Traumbilder, das Ruder. Die Narration geht unter: Nur noch einzelne „erzählende“ Teile schwimmen am Ende wie Inseln in einem aufgepeitschten Ozean im Geist der Betrachtenden.

Im Roman führt der Weg des „Steppenwolf“, als der sich Haller empfindet, über diabolische Begegnungen etwa mit der Gelegenheitsprostituierten Hermine, die ihm voraussagt, dass er sie töten würde, bis zu dem ihm Drogen verabreichenden Saxophonisten Pablo mitten hinein ins Psychedelische. Hallers Bewusstsein verändert sich. Er erlebt einen Horrortrip der Seele, der Verstand setzt aus. Er verübt, vom Wahnsinn getrieben, Mord. Am Ende stellt sich alles als Theater heraus.

In Nürnberg lässt Montero zu Beginn seines Stücks, dem das Programmheft als Gliederung die magische Zahl von zwölf mit kurzen Titeln benannten Türen als Objekte des Öffnens und des Schließens, des Übertritts und des Durchschreitens zuschreibt, das ganze Ensemble einheitlich in grauen Anzughosen und Rippenstrick-Unterhemden die Bühne betreten, hinter ihm ein Aufbau schräg gestellter, schwerer Türen aus rostigem Eisen und Metall. Im Chor intonieren sie auf Englisch Sätze aus dem Harry Haller-Roman, in dem Hesse die innere Zerrissenheit der Hauptfigur zwischen einem Leben als angepasstem Bildungsbürger und Kulturkritiker, zwischen Angekommenem in der Gesellschaft und einsamem Außenseiter ohne Bindungen oder Beziehungen verhandelt.

Schon im zweiten Bild ist die Choreografie der Gruppe dergestalt, dass alle Tänzerinnen und Tänzer Harry Haller sind. Ein Strauß roter Rosen symbolisiert die kurze Begegnung mit der Utopie der Liebe. Er wandert von Körper zu Körper. Die Tänzer erscheinen und verschwinden dabei in rascher Abfolge aus und in den Türen, die Wechsel lassen sich kaum vorhersehen, der Rhythmus in der Abfolge der Bewegungen ist hart, zupackend und übersichtlich. Der Verstand möchte das angebotene Bild identifizieren und rutscht doch ab. Seinen ersten Höhepunkt erlebt das Stück, als ein Tänzer mit einer Kamera in der Hand beginnt, das, was sich wie in einem Bordell hinter den Kulissen abspielt, zu filmen und auf der Bühne auf eine große Leinwand zu projizieren, während vorne das Tanzgeschehen weitergeht. Als sich die Kamera schließlich auf das Publikum richtet und sich das Parkett als Masse im Film auf der Bühne sieht, dann plötzlich weggeknipst wird zugunsten einer Aufnahme leerer Reihen, in denen plötzlich ein Mann im weißen Laboranzug wahlweise ein rotes Verbotsschild beziehungsweise ein grünes „Erlaubnis“-Schild hochhält, wird klar, dass hier nicht einer zeigen möchte, dass er „immersives Theater“ kann, sondern dass das Werk, das an diesem Abend kreiert wird, woanders liegt: beim Zuschauenden. 

Montero blendet den von Hesse verhandelten Konflikt komplett auf das Kollektiv, auf unsere politische und soziale und von Ideologien getriebene Wirklichkeit. Das Publikum schaut irgendwann auf einen in den zahlreichen Projektionen erscheinenden und mit den Zähnen fletschenden Wolf, der auf es zu zurennen scheint. Der Zuschauende erlebt nicht nur Verwirrung. Vielmehr wirkt Monteros „Steppenwolf“-Produktion, zu der der kanadische Komponist Owen Belton, Monteros Leib- und Magen-Komponist – vielleicht seine jemals beste Komposition kreiert hat – wie ein kreischender Schrei. Und als ein solcher wirft sich das Stück lasziv, zynisch, kalt, raffiniert und grausam an den Hals des Zuschauenden. Im Kleid eines immersiven Gesamtkunstwerks, wie es eine Bühne an einem Staatstheater nicht oft erlebt, fordert es das Publikum im übertragenen Sinne zum Mitdenken auf. Gefilmt, gesehen und bespielt mit Bildern über Bildern, soll es, so mitinszeniert als eigentlichem Akteur, im Kopf vielleicht die Alternative zur auf der Bühne vorgestellten und gespiegelten Welt entwerfen, damit das Theater kein repräsentatives Theater mehr sein muss, sondern von der Wirklichkeit überrascht wird. Eindrücklich hat dies Carl Schmitt in seinem wegweisenden Essay „Hamlet oder Hekuba. Vom Einbruch der Zeit in das Spiel“ aus dem Jahr 1956 durchdacht, der das in Shakespeares „Hamlet“ angelegte Spiel im Spiel als Kommunikationsbeziehung aufdeckt zwischen der Figur Hamlet und dem geschichtlichen König Jakob, was das Volk damals sehr wohl verstanden haben muss. 

Für sein hochgradig performatives Theater hat sich Montero persönlich zudem intellektuell von Joseph Beuys inspirieren lassen, der in den 1960er Jahren im Sog der universalen Bewegungen in der westlichen Kunstwelt – des Fluxus, der Konzeptkunst, der Pop-Art, des Happenings – die Kunst mit Partizipation und Weltverbesserungs-Potenzial aufgeladen hatte. Die von Beuys entworfene Utopie eines besseren Miteinanders im Geiste der Verbundenheit als zentraler Aufgabe aller gibt Monteros Produktion „Der Steppenwolf“ dabei gleich an das Publikum weiter, nach Beuys Motto: „Die Zukunft, die wir wollen, muss erfunden werden. Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen.“

Das dystopische Geschehen auf der Bühne dient insofern nur als fantastische Repräsentation jener Wirklichkeit, die sich als Wirklichkeit eines „Wolfs“ sieht. Durch das Stück schleift Montero „Harry Haller“ oder gleich das Publikum mit Hilfe einer betörenden mephistotelischen Figur, gesprochen, getanzt, dargestellt von Victor Ketelsleger, einem früheren Tänzer der Truppe, den er eigens für „Der Steppenwolf“ von der Göteborg OperaDanskompani hat einfliegen lassen. In roter enger Hose, wahlweise als Laborant, der mit der Axt auf den Stamm von Beuys Eiche einhackt, moderiert er zum Schluss des Stückes Hallers Tribunal, in dem das Publikum die Wahl hat, Haller mitauszulachen. Und das Publikum lacht mit, bis einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Wow!

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