Aufforderung zum Handeln
Goyo Monteros „Der Steppenwolf“ am Staatstheater Nürnberg
Mit „Dürer´s Dog“ kreiert Goyo Montero am Staatstheater Nürnberg eines seiner schönsten Ballette
Am Ende knallt's. Zum ersten Mal platzt direkt nach Abschluss einer Ballettpremiere am Staatstheater Nürnberg ein Scheinwerfer. Feine Funken und Rauchschwaden schweben von der Decke. Ungläubig ob der Magie des Augenblicks, kommt man auf den diffusen Gedanken, hier könnte Dürer selbst am Werk gewesen sein – als ob es sich Deutschlands größter Renaissance-Künstler nicht nehmen lässt, gut 500 Jahre nach seinem Tod dennoch seinen Kommentar zu Goyo Monteros Tanzwerk über ihn abzugeben. Das Ensemble jedenfalls ist verunsichert. Es rückt, in einer Reihe stehend, eng aneinander anstatt von der Bühne zu gehen. Doch auch von Stück wegen her löst sich die Spannung nicht auf. Denn in bester „Cliffhanger“-Manier hatte Montero das letzte, titelgebende Szenenbild „Dürer's Dog“ inszeniert. In hellgrau schimmernden Ganzkörper-Trikots, auf denen Linien und Zahlen platziert sind, die Dürers unentwegte, nahezu mathematische Suche nach der Definition von Schönheit symbolisieren, kommt das Ensemble nach einer großartigen, berauschenden Gruppenchoreografie kraftvoll stehend zur Ruhe. Plötzlich entdeckt man mitten unter ihnen einen sanft schauenden, strubbeligen Kuschelhund mit großen Augen und Ohren.
Da war er also – und weg. Jener Hund, der den seit zehn Jahren in Nürnberg wirkenden Ballettdirektor und Chefchoreografen mental durch die Mammutaufgabe geleitet hat, Nürnbergs berühmtestem Sohn auf die Spur zu kommen und dessen Erleben der Welt und Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Kunst in die Mittel und Strategien eigenen choreografischen Arbeitens und Inszenierens zu übersetzen. Der Ballettchef hat diesen Hund bei der Recherche in Dürers Kupferstich „Die Geißelung Christi“ erstmals, und danach in vielen weiteren Arbeiten Dürers entdeckt und für sich als Alter Ego des Künstlers definiert.
Fünf Jahre lang recherchierte Montero in aller Stille und im Dialog mit Dr. Daniel Hess vom Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg für „Dürer's Dog“. Sein Opus Magnum ist nun das Jubiläumsgeschenk an die Franken, von denen einige nach der Vorstellung wisperten: „Da hat er jetzt aber was Schönes gemacht.“ Und tatsächlich: „Dürer's Dog“ fasziniert auf allen Ebenen und überzeugt in jedem Moment, auch wenn man mittendrin in der Dürer-Montero-Welt zu verschwinden droht, da der vollzogene Tanz des Ensembles die Brücke zu seiner eigenen Beredsamkeit verlässt und in eine weit entfernte Stille geht, die letztlich aber die Ungreifbarkeit Dürers zum Ausdruck bringt.
Eher analytisch gesprochen, vereint „Dürer's Dog“ auf der Basis eines sich ganz zurücknehmenden Kostümbildes (Angelo Alberto) die pure Schönheit moderner, Himmel und Erde verbindender Tanzbewegung aus dem eigenen Körperempfinden heraus mit feinster, teils in Echtzeit entstehender Videokunst (Frieder Weiss), einer betörenden Architektur (Eva Adler) aus zarten, wehenden Stoffen sowie Raum-im-Raum arbeitenden Elementen und einer die Farben aus Dürers Welt aufgreifenden Lichtkomposition (Olaf Lundt). Aufgefächert vor einem kraftvollen, erzählerisch ausdrucksstarken musikalischen Panorama aus der Feder der Komponisten Owen Bolten, Krzysztof Penderecki (Symphonie Nr. 3: Passacaglia) und Max Richter (Bearbeitung von Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten) entstehen neun zeitlose, markante Bilder von großer Rätselhaftigkeit und dennoch tiefer Wahrheit, die, bei aller Abstraktion, beileibe nicht zurückhaltend aufgebaut werden.
„Dürer's Dog“ entwickelt einen Sog wie ein Film, der, ähnlich wie beispielsweise die Kultserie „Twin Peaks“, zwischen Mystery, Horror, Hyperrealismus und Irrationalismus, Liebe und Tod hin- und herschaukelt und dabei tief in die Eingeweide jener Zeit vor 500 Jahren blickt. Dramaturgische Hilfe musste Montero übrigens nicht in Anspruch nehmen. Der Spanier ist wie wenige überhaupt in der Lage, hier vergleichbar mit Cranko, einen komplexen Stoff auf der Basis einer großen Materialfülle stringent zu durchdenken, entlang einer selbst gesteckten Linie abzuprüfen und dabei einen ureigenen Ansatz zu finden, der über sein persönliches Interesse oder seine individuelle Erfahrung hinausgeht und stattdessen auf ein allgemeinmenschliches Thema abzielt. Monteros Werke halten dem Betrachter Spiegel vor, sodass man sich tief berührt fühlt.
Und so gelingt ihm auch, wie zuvor in „Nussknacker“, in „Don Quijote“ oder davor in „Cinderella“ oder „Romeo und Julia“, im Rahmen von „Dürer's Dog“ etwas sehr Spezifisches, das sich Szene für Szene realisiert. Der Künstler als Schöpfergott mit Aura und Wirkung tritt ebenso auf wie der Fall von Adam und Eva aus dem Paradies, hinein in die sintflutartigen Wellenbewegungen des Lebens, das seine Abgründe und Phantasmagorien nicht zurückhält. Großartig auf den Punkt kommt beispielsweise das erste Bild mit dem Titel „Ausgangspunkt“. Ein riesiger Kubus schwebt von der Bühnendecke. In ihm eine Figur, die Dürer repräsentieren könnte, und um ihn das Ensemble, das im blauschwarzen Licht jeder Bewegung „Dürers“ folgt, wie eine vielgliedrige Marionette: Die Bewegungen der Gruppe gleichen Farbströmen, ausgegossen in den Raum, und sie versinnbildlichen zugleich den Schaffenswillen und die Außenwirkung einer kraftvoll, wirksam werdenden Seele in die Außenwelt.
Im zweiten Bild öffnet sich der Kubus und wird zur mehrfach in den Raum hinein verschobenen Leinwand, auf der „Dürer“ mit Licht und Schatten Bewegungen malt. Sie vermischen sich mit rasch in Erscheinung tretenden und wieder verschwindenden Duetten. Das Bild mit dem Titel „Blaurackenflügel“ fördert ein Spezifikum dieses Bühnenwerkes zutage: Es vermag mit abstrakter Tanzbewegung, synchron und leidenschaftlich wie bei Maurice Béjart vollzogen, eine Präsenz von etwas zu erzeugen, das eine vollständige, gleichberechtigte Analogie zu Dürers Malerei entstehen lässt, die sich zugleich tief emotional in den Bauch gräbt. Am Ende genießt man mit „Dürer's Dog“ eines der emotionalsten und schönsten Ballette Monteros.
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