„Shifting Perspective“ von Diego Tortelli. Tanz: Jin Young Won, Cristian Cucco, Corey Scott-Gilbert

„Shifting Perspective“ von Diego Tortelli. Tanz: Jin Young Won, Cristian Cucco, Corey Scott-Gilbert

Ein einzelner Blickwinkel

Diego Tortellis Tanztheater „Shifting Perspective“

Das Tanztheater des Choreografen Diego Tortelli in der Muffathalle München handelt von Wahrnehmung und Blickwinkeln.

München, 03/03/2019

Von Luisa Reisinger

Wenn Sie diesen Text gelesen haben, kennen Sie eine Betrachtungsweise. Sie werden danach erahnen können, wie sich drei tanzende Körper durch einen Raum bewegt haben. Wie die Musik klang, die sie begleitet hat. Doch bleibt das, was sie lesen, ein subjektives Urteil. Ein einzelner Blickwinkel. Eine Sichtweise auf Diego Tortellis Tanztheater „Shifting Perspective“, welches dem Zuschauenden für einen Augenblick selbst die kreative Kontrollmacht übergibt. Denn jeder Einzelne von uns wird an diesem Abend mit einem Kopfhörer ausgestattet, über den drei unterschiedliche Kanäle auszuwählen sind. Technobeats, Filmmusikähnliches und gesprochene Worte, verständlich und unverständlich, in deutscher, italienischer, englischer und koreanischer Sprache werden laut (Komposition Francesco Sacco).

Und dazu bewegen sich Jin Young Won, Corey Scott-Gilbert und Cristian Cucco in einer Roboter-ähnlichen Manier, als seien sie Menschen, die schon maschinell geworden sind, als wären sie Maschinen, die entfernt noch an das Menschliche erinnern. Sie sind in der Mitte des Raumes auf einem erhöhten Podest platziert, sodass das Publikum, sich selbst bewegend, das Getanzte von jeder Seite aus beobachten kann. Dies hat zuweilen einen starken Ausstellungscharakter, die beäugten TänzerInnen formieren sich wie lebendige Skulpturen, Darstellungsobjekte. Doch im Verlauf des Abends werden sie vielmehr zu Erzählenden, die mit Hilfe ihrer Körper jedem Einzelnen eine andere Geschichte illustrieren.

Der italienische Choreograf Diego Tortelli thematisiert mit dieser Arbeit nicht nur die rapide Digitalisierung unserer Welt, das Nebeneinander, Miteinander und Untereinander in den sozialen Netzwerken, eine Parallelrealität, in der wir unterschiedlich agieren, sondern spielt gekonnt mit einem Phänomen der Kunst par excellence, dem der Wahrnehmung. Tortelli, der sich selbst im Publikumsgespräch als Kontrollfreak bezeichnet, umgeht mit diesem Konzept geschickt die eine, unanfechtbare Perspektive auf sein Tanztheater, indem er gleich mannigfache Möglichkeiten des Erlebens anbietet. Denn hier bleibt das Erlebnis individuell. Eben eines von vielen.

So kann dieser Text Ihnen nun von einem Kampf zwischen drei jungen Menschen erzählen, die in einer immerwährend schnelleren Welt bis zur Atemlosigkeit gegen sich, gegeneinander und gegen etwas, was uns verborgen bleibt, stürmen. Getragen von hämmernden Technobeats zeigen sich dominierende Bewegungen nach außen, von sich gestreckte Arme und Beine, rhythmisierte Köpfe des Marschierens, auf dem Boden und im Stehen hin- und hergezogene Torsos, die getrieben scheinen.

Dieser Text kann Ihnen jedoch auch von einer Liebesgeschichte erzählen. Von einer Frau, die umgeben wird, von Zweien, die sie liebt. Die sich mit ihr vereinen wollen, sich mit ihrem Körper verschränken, sie von links nach rechts feinfühlig schweben lassen. Mit ihr leiden, sie anbeten und sich ihre Aufmerksamkeit erhoffen. Im Kanal zwei des Kopfhörers erklingt Musik für diese Geschichte und auf dem Tanzpodest sieht der Zuschauende den drei TänzerInnen bei diesem Narrativ zu. Für mehrere Minuten oder nur für wenige Sekunden.

Denn mit einem Klick sind wir wieder im Kampf der Selbstoptimierung, in einer Welt der leibhaftigen Maschinen. Indem der Kopfhörer als Kontrollinstrument jedem individuell überlässt, wie lange welche Perspektive eingenommen wird, welches musikalische Fundament den Bewegungen dient, welche Geschichten uns die TänzerInnen erzählen, wird der Tanzabend zu einer Metapher für unsere anklickbare Welt, in der alles sofort greifbar scheint. Tortelli nutzt dabei den dritten Kanal, um eine theoretische Ebene in seinem Stück zu verweben. Die gesprochene Sprache, die zu hören ist, definiert hier divers den Begriff der Perspektive, setzt philosophische Laute über das Phänomen frei und spielt mit dessen mehrsprachigen Synonymen. Mit Kanal drei werden die sich bewegenden Körper mediale Boten der hörbaren Worte: Der Tanzende wird zur Perspektive auf die Perspektive, einem Hybrid der Ausdrucksform.

Doch ist es alleine der Technobeat, der präzise zur Choreografie der TänzerInnen, die in 80er-Jahre-Trainingsanzügen über 40 Minuten mit einer kraftvollen Ausstrahlung brillieren, passt. Zwar können die Bewegungen auch in Verbindung mit den Tönen in Kanal zwei und drei gebracht werden, jedoch müsste man hierfür dann doch ein Auge zudrücken, um sagen zu können, dass das Getanzte eine Symbiose mit dem Gehörten eingeht. Das ist allerdings der einzige Wermutstropfen an diesem Abend. Es bleibt: Ein innovatives Tanztheater, das die Zuschauenden herausfordert, ein eigenes Panorama des Performativen zu kreieren, und auffordert, sich eine eigene Meinung zu bilden. Denn vergessen Sie nicht, dieser Text ist nur eine Perspektive des Erlebten. Eine von vielen.
 

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