Kunst der Verzauberung
Die Jubiläumsausgabe von Think Big!, dem Festival für junges Publikum in München, lädt zum Träumen ein und hält den Spiegel vor
Diffuses Licht fällt auf einen hellen Hügel, aus dem sehr langsam und in vollkommener Stille ein Wesen wächst. Es hat eine Art Kissen als unförmige Körpererweiterung umgeschnallt, und wo üblicherweise das Gesicht ist, sieht man nur ein paar Fetzen. Dann bekommt das Wesen Gesellschaft. Immer mehr ähnliche Geschöpfe erheben sich neben ihm, mit mehr Köpfen als Körpern, einige von ihnen sehr klein. Sind es Untote, Phantasiegebilde zwischen Mensch, Tier und Pflanze oder Überlebende einer Katastrophe?
Für eine Müllhalde ist die Mischung aus Stoff und Folie, die in Lia Rodrigues´ neuem Stück „Borda“ die Bühne bedeckt, jedenfalls viel zu hell und clean. Dennoch haftet denen, die hier zu hausen scheinen, die Aura von Outcasts an. Und als sie einmal urplötzlich ihre Gesichter zeigen, ist das so schnell wieder vorbei als wäre es nur eine Fata Morgana gewesen. Erst als die sich sehr allmählich beschleunigenden Bewegungen der neun Performer*innen in Interaktion mit dem textilen Bühnenbild rascheln, knistern und Wellen erzeugen, schieben sich Assoziationen mit Wasser in den Vordergrund, wie man sie etwa aus dem Stück „Pindorama“ kennt, mit dem die brasilianische Choreografin bereits vor zehn Jahren in München gastierte. In „Borda“ türmen sich auch mal Folienwogen über den Köpfen und eine Kinderstoffpuppe fliegt durch die Luft. Ein kleiner Gruß an die europäischen Außengrenzen?
Mikro-Widerstand und eigene Geschichten
Nach der Uraufführung des Stückes Ende Mai beim Brüsseler Kunstenfestivaldesarts ist die koproduzierende Muffathalle die dritte deutsche Station auf der Europatournee von Lia Rodrigues´ seit 1990 bestehender Companhia de Danças, deren Mitglieder aus den Favelas von Rio de Janeiro kommen. In einer der größten Favela-Komplexe Lateinamerikas betreibt Rodrigues mit dem Centro de Artes da Maré ein eigenes Kunst- und Ausbildungszentrum. Zwischen humanitäre und künstlerische Anliegen passt da auf der Bühne kein Blatt. Schon deshalb nicht, weil die inzwischen 69-Jährige ihre Tänzer*innen dazu animiert, ihre eigenen Geschichten zu erzählen.
Das Anliegen in „Borda“ ist viel weniger diffus als die anfängliche Beleuchtung. Nach dem ungewohnt monochromen und ruhigen ersten Teil, der auch einiges an Geduld erfordert, folgt ein zweiter, in dem sich die Performer*innen ihrer Masken und Lumpen entledigen und sich in die bunte brasilianische Tanz-Kampf-Show-Truppe verwandeln, die man kennt. An der Nahtstelle dazwischen haben sie ihre Kopf- und Körper-Polster wie abgelegte Fesseln triumphierend in die Höhe gehalten und miteinander zu flüstern und zu kichern begonnen: Nicht eins zu eins entschlüsselbare kleine Akte des Wiederstandes, mit denen sich diese neue Gemeinschaft gleichsam zur Welt bringt.
Selbstermächtigung als Praxis
„Borda“, der Titel des rund siebzigminütigen Abends, heißt „Grenzen“ und meint all die willkürlich gezogenen oder historisch gewachsenen Linien, die Nationen, Menschen und andere Geschöpfe voneinander trennen. Hierarchien sind impliziert. Das Wort leitet sich im Portugiesischen von dem Verb „bordar“ ab, was so viel heißt wie „sticken“ oder „verzieren“. Packte man beide Bedeutungen zusammen, hätte man eine üppig geschmückte Grenzlinie: weniger kategorisch und schon nicht mehr ganz so schneidend. Und so ähnlich definiert die Companhia ihren Weg: Starre Zuschreibungen werden mit überbordenden Kostümen gerockt, aus anonym wird individuell, aus weiß wird bunt, aus Stille Lärm.
Und tatsächlich: Pünktlich zu diesem selbstermächtigten Akt der Wiedergeburt setzt mit einem dumpfen Klopfen Musik ein. Repetitiv, sich nach und nach mit weiteren Klängen und Stimmen anreichernd, dient sie als Soundfloor für eine Feier der Vielfalt. Wunderbare Einzelbilder entstehen auf ihm: Von den Armen, die aus dem verebbten Stoffsturm hervorragen und -spritzen wie Gischt, bis hin zu Formationen in Reihe, wo etwa auf Hüfthöhe der Tanzenden scheinbar verwaiste grimassierende Köpfe oder nackte Hintern auftauchen. Mit schillernden Stoffen, silbernen Bustiers, kurzen Haremshosen und Mini-Schottenröcken mit angedeutetem Skalp-Behang an weiblich wie männlich gelesenen Körpern, drehen die neun Tänzer*innen rassistischen und anderen Zuschreibungen eine Nase. Und einmal wachsen aus einem besonders breit aufgespannten Rock ein knappes Dutzend Beine heraus.
Lia Rodrigues´ Vorliebe für kollektive Körper treibt die schönsten Blüten. Sie wirken weniger brachial und archaisch als zuletzt in „Fúria“, verspielter, einladender, fast fröhlich. Warum „Borda“ aber fast die Hälfte der Aufführungsdauer gebraucht hat, um dahin zu kommen? Schwer zu sagen. Auch wenn Brasilien die schlimme Bolsonaro-Zeit gerade hinter sich hat: Der Kampf gegen die Zukunftslosigkeit der Marginalisierten und Ausgegrenzten bleibt Schwerstarbeit und verlangt Geduld. Demnächst oder gerade wieder weltweit. Und dass er nur gemeinsam gelingen kann, ist hier Bild für Bild zu sehen.
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