NEWSROOM - #2
Die neueste Folge unserer Newssendung zu Tanz aus Bayern
Choreografien von Quim Bigas, Ian Kaler und Thomas Hauert bei der Tanzwerkstatt Europa in München
München City, Sommerabend. Auf dem Wittelsbacher Platz versammelt sich in positiver Erwartung ein entspanntes Publikum, Bier in der Hand, Plauderei. Zur Eröffnung der Tanzwerkstatt Europa wird Quim Bigas mit „MOLAR“ eine Art interaktive open air Intervention tanzen. Doch zuerst betritt der katalanische Performer und Choreograf die durch Scheinwerfer markierte Bühnenfläche mit einem Mikrofon, fixiert die Zuschauenden mit dem immer entwaffnenden, ungenierten Blick in die Augen. Jeder und jede ahnt, was passieren wird: „Hello, may I ask you a question? What is happiness for you?“ Dabei scheint er weniger an den Antworten der Interviewten interessiert zu sein, als vielmehr an der performativen Qualität der Übergriffigkeit, an dem Spiel zwischen Nähe und Distanz. Das muss man aushalten können. Seine eigenen Antworten findet er in formatartigen tänzerischen Ausdrucksformen. Zu einer bunten Soundcollage, die aus Musikstücken, Werbetexten und Suchergebnissen besteht und inhaltlich das Thema Glück abgrast, schlüpft er in – teilweise semiotisch aufgeladene – Bewegungsfragmente, die meist in der populären Tanzkultur zu verorten sind: Luftgitarre, Victory-Posen, gymnastikartige Abfolgen, Hüpfen und Springen, Clubmoves und Discodance.
Dabei sucht der schwitzende Quim Bigas immer wieder die Resonanz vom Publikum, will gefeiert werden, läuft durch die Menge und versucht, Kleingruppen zu animieren. Es ist die Kraft der Ansteckung, auf die er setzt – leider erfolglos. Da helfen auch die Pappschilder nichts, die er aus diversen Ecken des Platzes hervorzaubert und Botschaften übermitteln wie „Auf geht’s, Leut!“. Erst, als das Publikum aufgefordert wird, enger zusammenzurücken, fällt das Mittanzen leichter. Im richtigen Moment beginnt eine Karaokesession und damit eine energetische Verdichtung. Mit dieser Stimmung hätte man arbeiten können. Leider fehlt es dem Abend insgesamt an dramaturgischer Führung und Präzision. Die Fragen vom Anfang werden nochmals gestellt, führen allerdings nirgendwo hin. So franst „MOLAR“ ins Nichts aus und was bleibt, ist der Eindruck einer beliebigen Verkettung von Fragmenten, die ihr Potenzial ungenutzt gelassen hat.
Wie ein Gegenvorschlag erscheint Ian Kalers ) „o.T. (the emotionality of the jaw“, der erste Teil einer Arbeitsreihe aus dem Jahr 2015. Raum und Zeit sind präzise strukturiert: Am Anfang gleißendes Gegenlicht. Die live erzeugten elektronischen Klänge von Jam Rostron stehen in intensiver Kommunikation mit den repetitiven Marimba-Patterns, in die sich Houeida Hedfi am elektronischen Drumset fast meditativ hineinsteigert. Durch verschiedenartige rechteckige Flächen, die in den Bühnenboden eingelassen und an den Seiten aufgestellt sind, Licht reflektieren oder in ihrer Materialität nachgeben, kommen weitere Dimensionen von Raumqualität hinzu. Ian Kalers Körper ist von Anfang an eine klare Bewegungslogik eingeschrieben. Er sucht den Boden, schlängelt sich hinein, ganz nach Innen gekehrt, um in Trance nach dem Himmel zu greifen. Rage ergreift ihn, er kauert und zuckt, als wäre es etwas Externes, das ihn treibt und die Kontrolle übernimmt. In seinen Kapuzenpullover zieht er sich wie in eine Zwangsjacke zurück. Das ist ein Kampf, denkt man, aber wer gegen wen?
Das alles wirkt etwas düster und man kommt nicht umhin, an verdrogte Raver zu denken. Wenn physisch stark beanspruchende Bewegungen ins Loop gesetzt werden und Ian Kaler minutenlang seinen Kopf wie in einem unendlichen Nies- und Schnaufkrampf Richtung Boden schwingt, dann will man aufstehen und ihn aus seinem Wahn befreien. Es ist ja auch sein naiv und fragil wirkendes Äußeres, das wasserstoffblonde Haar, der offene und suchende Blick, mit dem er hier spielt. Denn es kommen die Momente, wo er in beseelter Ruhe einfach vor uns steht, ganz nah dran, kaum merklich lächelt, kindliche Gesten benutzt, mit dem Finger auf Einzelne deutet und auf sich selbst, um zu sagen: Du und ich, wir. Aber jede Ruhe ist nur die vor dem Sturm und wir werden Zeugen einer extremen Verausgabung. Als auch dieses Wüten wieder abklingt, glitzert Ian Kalers Schweiß an der Wand. Auf der anderen Seite leuchtet auf der Reflexionsfläche ein Lichtregenbogen, der das Ende des Stücks markiert – und den Anfang von etwas Neuem? Die Intensität der Bewegungen und die Virtuosität der gesamten Komposition lässt einen jedenfalls nicht so schnell los, wirkt im eigenen Körper noch lange nach.
Gemeinsam mit fünf TänzerInnen aus seiner Kompanie ZOO will Thomas Hauert in „inaudible“ (2016) dem Verhältnis von Musik und Bewegung nachgehen. Alter Hut, könnte man meinen. Und dann auch noch Gershwins Klavierkonzert! Zusätzlich bildet ein Stück für 28 SängerInnen, Spielzeuge und elektronische Musik des zeitgenössischen Komponisten Mauro Lanza die hier so wichtige musikalische Ausgangsbasis. Eines ist sicher: Die TänzerInnen kennen jeden einzelnen Takt der Partituren, haben jede Note durch ihre Körper gehen lassen. Nur auf dieser Grundlage ist es möglich, eine sich immer wieder neu gestaltende Studie zwischen Choreografie und Improvisation zu initiieren. Eine Studie über den individuellen Ausdruck beziehungsweise die Interpretation, das Verhältnis der Einzelnen zueinander und die Verdichtung einer Gruppe und ihrer Dynamiken. So beginnt „inaudible“ mit einem weich angeleuchteten Menschenknäuel, das in slow motion und zur Musik von Lanza immer wieder Arme und Beine gebiert, verzerrte Münder freilegt und greifende Arme.
Dann kommen Gershwin und die große, erleuchtete Bühne, auf der die TänzerInnen aufgereiht antreten. Nach einem fixen Schema wird ihnen in unterschiedlicher Konstellation Raum für Improvisation gegeben. Nach dem Prinzip des sogenannten Mickey-Mousing werden tänzerische Umsetzungen von melodischen Verläufen, Rhythmen oder spezifischen Klangqualitäten gesucht. Dabei ist die Musik von sich aus schon so physisch, dass sie Gesten und Bewegungen vorzugeben scheint und an vielen Stellen eine humorvolle Komponente beinhaltet. Welche Lösungen werden gefunden, um sie in die Sprache des Körpers zu übersetzen? Nach etwa der Hälfte des Stücks schleichen sich Angleichungen im Stil ein, Synchronisation von Akzenten, rhythmische Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten in der Bewegungsqualität – als würden sich die Körper gegenseitig infizieren. Zwischen Chaos und Struktur bildet sich die spezifische Ästhetik einer Gruppe heraus.
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