„Großer Bruder“

„Großer Bruder“

Nothing Compares to You

„Großer Bruder“ mit Sarah und David Speiser beim Festival THINK BIG! #4 in der Muffathalle in München

Manche Dinge, denkt man beim Zuschauen, kann man so wohl nur mit seinem großen Bruder durchmachen. Ein Glück, dass Sarah Speiser einen hat, und dass ihr Bruder David Speiser ebenfalls Schauspieler und Tänzer ist.

München, 07/10/2015

Von Lea Kappl

Mülltonnensurfen. Luftgitarre. Volleyball mit abgetrennten Barbiepuppenköpfen. Headbanging zu Rage Against the Machine, nur echt aus dem Kassettenrekorder. Hänsel und Gretel. Ohne Angst in die Dunkelheit. Wrestling, Müllsackdress und Feinstrumpfmaske. Sterbender Schwan im Faschingstutu – neon-orange. Liebeskummer erleben mit Sinead O'Connor, Nothing compares 2 U. Oder doch besser: Ich geh' mit meiner Laterne, La Pimmel La Bammel La Bumm.

Manche Dinge, denkt man beim Zuschauen, kann man so wohl nur mit seinem großen Bruder durchmachen. Ein Glück, dass Sarah Speiser einen hat, und dass ihr Bruder David Speiser ebenfalls Schauspieler und Tänzer ist. Zunächst als Abschlussarbeit im Studiengang Physical Theatre an der Folkwang Universität der Künste, dann in Koproduktion mit dem Vorstadttheater Basel und seinem künstlerischen Leiter Matthias Grupp entwickelte Sarah Speiser für sich und ihren Bruder ein knapp einstündiges Bewegungstheater über Geschwisterliebe, Geschwisterhass und die vielgestaltigen Emotionen dazwischen; von der frühen Kindheit bis in die Gegenwart (Premiere 06.03.2015, Vorstadttheater Basel).

Ansteckend wirkt an diesem Abend die authentische Wärme und Lebendigkeit, die das berührend uneitle, aber gar nicht sentimentale Powertheater der Geschwister transportiert. Situationskomik bringt die Kinder im Publikum vergnügt zum Glucksen, wenn David Speiser aus der Hand seiner Schwester virtuos so lange Kaubonbons mit dem Mund auffängt, bis sich alles in eine Zuckerspuckepfütze auf den Boden ergießt – in welcher daraufhin wiederholt ausgerutscht werden muss. Auch der spielerische, handgemachte Minimalismus der Szene funktioniert: Eine Plastikmülltonne als einziges Objekt auf der Bühne wird ausgelotet als Vehikel, Spielkiste, Container, Versteck, Klangkörper. Und bei Bedarf ist sie auch nutzbar zum Schwester-in-die-Tonne-Treten. Die so wüst geschmähte Sarah taucht natürlich aus sämtlichen der durchgespielten Geschwisterkonflikte unbeschadet wieder auf, beispielsweise wenn der Bruder das Müllbehältnis wie ein Schmuckkästchen öffnet und Sarah als makellose Perle in der Auster in dessen Zentrum sitzt.

Aus dramaturgischer Perspektive trägt der in verschiedenen Variationen und Altersstufen durchgespielte, irgendwann doch recht monotone Kreislauf aus Streiten und Wiedervertragen inhaltlich nicht ganz die einstündige Performance. Das könnte man kritisch anbringen. Aber vielleicht geht es auch genau darum: dass es manchmal ermüdend ist mit den Geschwistern, dass man sich manchmal nicht mehr aushält. Und doch ist der andere immer da. Dafür finden Speiser und Speiser ein schönes Bild: Beide kauern im Inneren der waagrecht liegenden Mülltonne, ineinander verkrochen wie das Yin ins Yang, stetig umeinander kriechend, kreisend. Man kommt nur weiter, wenn der andere mitzieht, und man findet doch keinen Ausweg. Bis einer bremst. Geschwisterliche Vertrautheit macht es möglich, sich dem Bruder zu diesem Zweck auch einmal mit dem Hintern aufs Gesicht zu setzen, ohne dass die kindliche Unschuld dabei verloren geht.

Impulsive Körper-Sprache statt geschlossener Choreografie – der Abend ist eben Physical Theatre und kein ‚typischer' Tanz. Dennoch hätten ein paar mehr choreografische Strukturelemente gut getan. Genau dann wird es nämlich auch für die erwachseneren Kinder unter den Zuschauern interessant: Wenn erlebbar wird, wie zwei einander sehr vertraute, verwandte und doch grundverschiedene Körper einander in der wortlosen Bewegung spiegeln, doch nicht kopieren; und damit die Empfindungen des willigen Zuschauers in ihre ambivalenten Familienbande mit einflechten.

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