1 Hund, 1 Baby, 8 Tanzende
Integrative und interaktive Relaxed Performance von Wagner Moreira
Wagner Moreira choreografiert am Theater Regensburg Strawinskys „Sacre du printemps“ als Schattenseite einer exzessiven Drogenparty
Mit Räuschen ist das so eine Sache. Je hemmungsloser man sich ihnen hingibt, desto schneller verliert man sich respektive die Kontrolle über sich – nicht zuletzt bei einem mehr als bloß ausgelassenen Fest. Mitten hinein in ein solches will der Regensburger Tanzchef Wagner Moreira zum Saisonauftakt das Publikum im Theater am Bismarckplatz offenbar eintauchen lassen. Doch was trotz bestens aufgelegter Protagonisten nicht so recht zündet, ist der Funke unbeschwerter Lebenslust. Allzu beklemmend am Abgrund und in ihrer Selbstzerstörung fast schon abschreckend wirken die bald über die Maßen Berauschten in dem Strawinskys „Sacre du printemps“ vorangestellten Halbstünder zur Musik von Osvaldo Golijov.
Ausstatter Kristopher Kempf hat die Bühne in einen strahlend weißen Tanzpalast mit sieben halbseitig verspiegelten Drehtüren verwandelt. Was dahinter im (Halb-)Verborgenen passiert, vernebelt den Interpreten zunehmend den Sinn. Es dauert nicht lange und zehn Tänzerinnen und Tänzer – jeder von ihnen anders auffällig herausgeputzt – erobern sich bewegungsfreudig-exaltiert den auf zwei unterschiedlichen Niveaus bespielbaren Raum. Sowohl in kurzen solistischen Einlagen als auch in der Gruppe gehen sie motorisch in die Vollen. Aus dem Orchestergraben ist – ansteckend lebhaft vom Philharmonischen Orchester Regensburg unter Leitung von Tom Woods (1. Kapellmeister und stellvertretender Generalmusikdirektor am Theater Regensburg seit 2014/15) gespielt – das Konzert für zwei Klaviere und Orchester „Nazareno“ des argentinischen Komponisten Golijov zu hören. Es basiert auf verschiedenen lateinamerikanischen Tänzen, die dem ersten Teil des neuen Tanzabends „Sacre – Ein Rausch“ Leichtigkeit und rhythmischen Schwung verleihen. Zumindest akustisch.
Zwischen den sechs Sätzen knistert es auf der Bühne dagegen elektronisch gefährlich. Lichter flackern oder fallen kurzzeitig aus. Interpreten – die Nase voller Koks und nahe am Filmriss – brechen zusammen. Immer öfter und körperlich zerrütteter gehen sie zu Boden. In Projektionen (Video: Sven Stratmann) erstarren ihre Körper zu steifen, farblos-nackten Skulpturen. Die inszenierte Hemmungslosigkeit kippt ins Laszive. Dem Übermut der tanzwilden und bedenkenlos Drogen ohne Limit konsumierenden Partyclique fehlt aber letztlich der ultimative Kick, um jedermann im Zuschauersaal von Mal zu Mal aufs Neue mitzureißen, sobald alle wieder Herr ihrer Arme und Beine sind – und bereit für den nächsten Ensemble-Parcours, bei dem gezielt auffordernd ins Publikum geblickt wird.
Schleichend setzt das Vergessen und damit einhergehend eine optische Veränderung ein. Tänzer verschwinden. Wenn sie etwas später wieder zur Gemeinschaft stoßen, hat ihr Outfit seine Farbigkeit verloren. Am Ende sind alle zehn Kostüme weiß. Vincent Wodrich, der anfangs als Erster wie ein geladenes Geschoss durch eine der Türen ins Blickfeld der Zuschauer purzelt, liegt regungslos zusammengekrümmt da. Silberne Eimer vor sich herschiebend, robben die anderen bäuchlings an ihn heran. Sie richten sich auf und schütten solange glitzerndes Konfetti über ihm aus bis das Bühnenlicht erlischt und der Vorhang fällt.
Zutiefst existentiell
Nach der Pause legt die zehnköpfige Regensburger Kompanie noch einmal richtig los. Der Übergang vom ersten zum zweiten Teil ist fließend, verändert wurde lediglich das Set. Die mondäne Vergnügungsburg in Form eines gebauten Raumteilers mit zwei stilisierten Deko-Palmen ist fort. Stattdessen dominiert nun ein breiter schwarzer mobiler Ring mit Leuchtkörpern an der Unterseite den ansonsten nüchtern-leeren Raum. Und diesmal trifft einen das zutiefst Existenzielle des Tanzens ins Herz. Zweifelsohne hat daran auch das Philharmonische Orchester Regensburg großen Anteil, das die reduzierte „Sacre“-Fassung von Jonathan McPhee sehr schön nuanciert, musikalisch überaus präzise und dynamisch stark interpretiert. Durchaus keine Selbstverständlichkeit bei diesen 35 Minuten Musik, die es in sich haben.
Der nicht abreißenden Anzahl choreografischer Interpretationen hat Wagner Moreira jetzt eine weitere hinzugefügt, in der es um nichts weniger als den Kreislauf des Lebens geht: individuell, gesellschaftlich, biologisch. Wie schon Annett Göhre in ihrer Ulmer „Sacre“-Kreation in der vergangenen Spielzeit entschied sich auch Moreira für einen inhaltlich verknüpften Doppelabend – ausgehend ebenfalls von einer gemeinschaftlichen Beschäftigung mit den Fragen, welche Opfer zu bringen wir bereit sind, welche Rituale hinter dem Ritus der „Frühlingsweihe“ stecken und inwiefern Schicksale Einzelner mit jenen der Gemeinschaft zusammenhängen.
Die Unterschiede sind dennoch immens. Zwischen beiden Umsetzungen liegen Welten. Auf Strawinskys Musik lässt sich thematisch eben fast alles choreografieren. Das hat zuletzt im Sommer 2025 Marco Goecke mit seiner Ausdeutung für das Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz bewiesen, die den Tod komplett ausspart. Moreira hingegen bringt diesen schon vorab als in Kauf zu nehmende Möglichkeit bei seinem vermeintlich lebenslustigen Tableau der Ausschweifungen ins Spiel. Dass er seinen „Sacre“ im Anschluss weder an die ursprüngliche szenische Unterteilung anlehnt, noch seiner impulsiven Fassung einen dezidiert gesellschaftskritischen Stempel aufdrückt, mindert die packende Eindringlichkeit seiner Arbeit keineswegs.
Moreiras „Sacre“ nimmt den Zuschauer mit in ein Schattenreich – eine Art Zwischenwelt nach einer und vor der nächsten (Umwelt-)Katastrophe. Zu Beginn steht der schwarze Ring gleich einer Null aufrecht: ein massives Portal, das es zu durchschreiten gilt. Dahinter tauchen nacheinander die Tänzer aus der Versenkung auf. Sie tragen einheitlich dunkelsilbrige Wickelröcke und ein langes Hosenbein. Hologramme ihrer selbst umwandern sie im Kreis. Der Ring hebt ab. Die Gruppe der Tänzerinnen und Tänzer darunter klatscht sich wiederholt mit den Händen an den Hals, die Brust, den stofffreien Körper. Später senkt sich das Kreisgebilde wieder ab. Einige der Interpreten setzen sich, einige springen auf den Rand, andere mitten hinein in die beengte Arena.
Zwischen dem beweglichen Objekt, Lichteffekten und den zehn Protagonisten entspinnt sich ein feines choreografisches Hin und Her emotional bewegter Bilder. Bestimmte Muster an Schritten wiederholen sich. Getanzt wird oft raumeinnehmend breitbeinig mit viel Armeinsatz. Hände fliegen über der Gruppe in die Luft. Das Licht unter dem Ring erfasst Vincent Wodrich, der sich – urplötzlich ganz nackt – am Boden herumwirft. Wenig später wird einer Kollegin die Bekleidung entrissen. Kurze eindringliche Momente völliger Bloßstellung und Schutzlosigkeit. Dazwischen wird sich Zeit genommen, gestisch expressiv zu artikulieren oder auch mal wie hingegossen in abstrus verbogenen Posen innezuhalten: Augenblicke stillen Leids, schreienden Schmerzes, ein Sich-in-die-Situation-Ergeben.
Erneuerung, Läuterung, Heilung? Da kann sich Moreiras Truppe abkämpfen, so viel sie will. Das Paradies ist futsch. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt! Ab und an werden klare Formationen zu Kraftfeldern, die – angetrieben vom steten musikalischen Toben – Takte später wieder in ihre menschlichen Einzelbausteine zerfallen. Zum Schluss regnet es Asche vom Himmel. Alle Lampen im Ring leuchten. Die Umrisse einer auf den Hintergrund projizierten Gestalt verwischen – weggefegt von Flammen wie ein Phoenix. Man denkt an Weltuntergang. Da packt ein Tänzer eine Tänzerin und stemmt sie vor sich hoch. Black. Der Mensch als seines eigenen Abgrunds Schmied? Die Gedanken kreisen. Das muss man erlebt haben.
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