Internationale Ballett- und Tanzgala 2025: „Echoes of a Collapse“ von Alfonso López González. Tanz: Ballett Augsburg

Treffen der Spitzenklasse

Die Internationale Ballett- und Tanzgala 2025 in Augsburg

Zwei so brillante Stunden ausgeklügelten Tanzgenusses wie bei der Gala in Augsburg kann man sich nur wünschen.

Augsburg, 26/04/2025

Zwei so brillante Stunden ausgeklügelten Tanzgenusses – wie bei der Gala in Augsburg – kann man sich nur wünschen. Ein totaler Gegensatz zum zäh-kitschigen, vor allem visuell-filmisch effektheischenden „Lost Letters“-Gastspiel des Lucia Lacarra Ballet bei der gerade zu Ende gegangenen Münchner Ballettfestwoche.

Schon das choreografische Medley „New Comer – Highlights“ des gastgebenden Staatstheater Augsburg Ballett führte dem Publikum zum Auftakt in drei eigenwillig-starken Gruppenpassagen rasant vor Augen, welch’ ein enormes künstlerisches und zeitgenössisch-bewegungskreatives Potenzial im Choreografen-Nachwuchs dieses Ensembles schlummert. 

Gezeigt wurde ein überaus sehenswerter Zusammenschnitt der drei jüngsten hausgemachten Uraufführungen des letzten Premieren-Programms „New Comer“. Dabei wurde je eine Sequenz, in der sämtliche Interpreten des jeweiligen Stücks zusammentanzen, aus dem ursprünglichen Kontext gelöst und völlig ohne Ausstattungselemente zur Aufführung gebracht. Lediglich ihre originalen Kostüme durften die Augsburger Tänzerinnen und Tänzer anhaben. Der Clou dabei waren die neuen fließenden Übergänge, die Alfonso López González’ „Echoes of a Collapse“, Thomas Krähenbühls „La Grande Marche“ und Mateo Mirditas „DaDa Fam“ perfekt miteinander verbanden. 

Ganz gleich ob man im Vorfeld die vollständige Produktion bereits gesehen hat oder nicht: In dieser ersten Nummer auf der Bühne der Ersatzspielstätte im Martini-Park schoben sich drei hinreißend unterschiedlich gestimmte und schritttechnisch heterogen zusammengeschweißte Gruppen über die Bühne – jede in ihrer Kuriosität beziehungsweise mit zunehmender Skurrilität beeindruckender als die zuvor. Durch diese Neuzusammenstellung wirkte das Ensemble-Triptychon wie aus einem Guss, wie eine so und nicht anders im Team konzipierte Arbeit. Auf seine tolle Kompanie kann Ballettchef Ricardo Fernando, der die Zuschauer*innen danach freudestrahlend mit der rhetorischen Frage begrüßte „Es hat doch schon ziemlich gut angefangen, oder nicht?!“, zu Recht stolz sein.

Die schlechte Nachricht verletzungsbedingter Ausfälle schob er geschickt hinterher. Mit „großem Bedauern“ hatte sich Polina Semionova per Telefon sogar persönlich bei ihm entschuldigt, nachdem sie bereits alle ihre aktuell geplanten „Schwanensee“-Auftritte beim Staatsballett Berlin canceln musste. Ihre Zusage für die nächstjährige Gala hat Fernando dadurch aber bereits in der Tasche. Als zweite muss derzeit Yasmine Naghdi, Erste Solistin des Royal Ballet, pausieren. Sie war gemeinsam mit dem Royal-Ballet-Principal Reece Clarke eingeplant. Dem gelang es jedoch nicht, eine Ersatzpartnerin für die beiden Gala-Vorstellungen an den Osterfeiertagen zu finden.

Angereist ist Reece Clarke dennoch – nun mit zwei klassischen Soli im Gepäck. Das weniger bekannte und „gefühligere“ Stück – eine Wiederentdeckung aus dem Jahr 1978 – präsentierte er zuerst: den ursprünglich von Sir Frederick Ashton zu Musik von Christoph Willibald Gluck (Orfeo ed Eurydice, Act III, No. 29, „Reigen der seligen Geister“) für Anthony Dowell kreierten „Dance of the Blessed Spirits“. Im zweiten Teil verwandelte er sich schließlich in die sprunggewaltige männliche Hauptfigur Solor aus Ashtons „La Bayadère“.

Die großen Pas de deux und Variationen aus legendären Ballettklassikern gehören stets zu den „Must have“ in Galas. Auch in Augsburg wird daran nicht gespart oder gar gerüttelt. Aber wie so oft kommt es auf die einzelnen Interpreten und insgesamt auf die richtige Mischung an. So sorgte das verheiratete Tänzerpaar Karina Moreira und Norton Fantinel in glänzenden Abendroben mit „Love Fear Loss“ (Choreografie: Ricardo Amarante) zwischendurch für ball- respektive barselige Hochgefühle. Gemeinsam leiten die beiden die von ihnen ins Leben gerufene Arles Youth Ballet Company, die das Ziel verfolgt, junge Tänzerinnen und Tänzer bei ihrem Absprung in die Professionalität zu unterstützen. Ihre makellos schön fließenden Hebungen, hingebungsvollen Umarmungen und zum Schluss eine Reminiszenz in Spitzenschuhen an die Leinwandikonen Fred Astaire und Ginger Rogers boten stilistisch ein fabelhaftes Gegengewicht zu den balletttechnisch pur überwältigenden Beiträgen.

Hierzu gehörte am Ende ein von der Südkoreanerin Sae Eun Park lupenrein auf die Bühne getupfter „Le Corsaire“-Pas de deux. Aber ist das nicht das mindeste, was man von einer Pariser Étoile erwarten darf? Nicht zu toppen waren allerdings die mit Höchstschwierigkeiten verzierten Sprungvariationen ihres Partners Denys Cherevychko. Kostproben von Cherevychkos Virtuosität als fulminanter Erster Solist des Wiener Staatsballetts mag manch’ einer via Livestream aus der österreichischen Hauptstadt oder im Internet bereits gesehen haben. Wie Druckwellen einer Bombe reißt Cherevychkos ausdrucksstarke Bühnenpräsenz das Publikum dagegen mit, wenn man ihn live tanzen erlebt. Dass ein so hochkarätiger Künstler im zukünftigen Wiener Ensemble unter der neuen Direktion von Alessandra Ferri fehlt, ist jammerschade. 

Als erstes Gästepaar des Abends ließen Cherevychko und Sae Eun Park zudem schwierigste Arm- und Schrittkombinationen gespickt mit spontanen Wendungen und Drehungen in „à la manière de …“ zur gleichnamigen Musik von Maurice Ravel federleicht aussehen. Unglaublich, wie viel der für diese Choreografie verantwortliche Danseur Etoile und Professeur du Ballet de l’Opéra de Paris Jean-Guillaume Bart (Jahrgang 1972) hier allein schon an bloß konditioneller Herausforderung für die Protagonisten hineingepackt hat, was für Laien absolut nicht augenfällig ist. 

Direkt im Anschluss führten sich die Ersten Solisten des Stuttgarter Balletts, Mackenzie Brown und Adhonay Soares da Silva, als Odile/Schwarzer Schwan und von dieser übel getäuschter Prinz Siegfried bravourös und sehr klassisch ein. Laut Programmzettel in einer Petipa-Choreografie, die jedoch mit einigen recht ungewöhnlichen Schlusspositionen der Partner*innen zu überraschen wusste.

Für Brown – seit 2020 in Stuttgart engagiert und dort einer der Shooting-Stars, die sich schnell in Hauptrollen durchsetzen – war es der erste Gastauftritt in Augsburg. Dass sie nicht bloß in Spitzenschuhen eine formidable Tänzerin und in allen subtilen Schattierungen charaktersichere Darstellerin ist, offenbarte sich im zweiten Teil der Gala: Erneut an der Seite von Soares da Silva verstand sie sich ausdrucksstark in einer Choreografie ihres Stuttgarter Ex-Kollegen Roman Novitzky zu behaupten. Inhaltlich treffend hat Novitzky sein funkensprühendes, humorvolles Duett „A Dialog“ benannt. Abweichendes Aufgelegt-Sein und unterschiedliche Emotionalität treffen hier geschickt aufeinander. 

Musikalisch erklingt dazu Nina Simones „Sinnerman“ aus dem Album „Pastel Blues“ – und damit ein Soundtrack, den Marco Goecke vor zehn Jahren in seinem Stück „All Long Dem Day“ für die Staatliche Ballettschule Berlin verwendet hatte. Goeckes herausfordernd fetziges Oeuvre sorgt seit 2023 im Repertoire des Bayerischen Junior Ballett München für Furore. Was für ein Vergnügen mit dem Paar aus Stuttgart nun – in zeitlicher Nähe zu den Frühlingsmatineen der Heinz-Bosl-Stiftung – zu erleben, wie ein und dieselbe Musik völlig anders tänzerisch und stilistisch umgesetzt werden kann. Kann es ein besseres Argument für das unbedingte Beibehalten einer breiten Vielfalt an choreografischen Handschriften und kreativ tätigen Persönlichkeiten an unseren Theatern geben?

Anders als Brown zählt der Brasilianer Adhonay Soares da Silva in der Brechtstadt schon fast zu den Stammgästen. Wiederholt hat er sich als ebenso klassisch versierter wie auch im modernen Fach herausragender Tänzer ins beste Licht gerückt. Er stammt sogar aus demselben Ort wie Augsburgs Ballettchef Ricardo Fernando. Das verbindet – auch wenn die „Schwanensee“-Musikzuspielung plötzlich abrupt inmitten der mit virtuosen Schauelementen gespickten Solovariation Siegfrieds verstummt und nicht mal nach einigen in aller Stille weiterpirouettierten Takten wiedereinsetzt. Echte Profis stecken so etwas selbstverständlich mit einem breiten Lächeln und zusätzlicher Charmeoffensive weg.

Der ausgebremste Interpret und der herbeigeeilte, die technische Panne mit einer Zwischenmoderation überbrückende Ballettdirektor lieferten sich kurz einen launig improvisierten Wort-Mimik-Schlagabtausch. „Das ist live!“ Danach wiederholte Soares da Silva seine Variation und tanzte sie – wie anschließend alle Protagonisten ohne weitere unangenehme Überraschungen – bis zum Ende mit Musik formvollendet aus.

Ein kluger programmatischer Zugewinn war, dass diesem „Schwarzer Schwan“-Pas de Deux später am Abend noch Marco Goeckes zeitgenössisches Duett „Black Swan“ zur selben Musik gegenübergestellt wurde. Goecke – ab Sommer 2025 neuer künstlerischer Leiter und Haus-Choreograf des Balletts am Theater Basel – hatte seine Auseinandersetzung mit diesem berühmten Tschaikowsky-Highlight 2015 an der Académie Princesse Grace Monte Carlo herausgebracht. Nun brillierten die Erste Solistin Bianca Teixeira (von 2021-2024 Mitglied des Bayerischen Staatsballetts) und Lorenzo Alberti vom Ballett der Dresdner Semperoper in dem Wahnsinnsstück – einerseits (beispielsweise im Schwung der Arme) wiedererkennbar und zugleich verfremdet sowie zerlegt in die Vielzahl seiner einzelnen Motive und Affekte. Zuvor hatte das perfekt miteinander harmonierende Paar aus Dresden mit „Path“ – choreografiert von Young Soon Hue – eine ebenfalls eher dunkle und nicht einfach linear verlaufende Begegnung zweier eng miteinander verbundener Menschen präsentiert.

Viel Schwermut, aber auch Zuneigung, gegenseitige Achtsamkeit und Momente des Trosts schwangen zuvor in „State of Mind“ mit – zu Max Richters Komposition „Dream 3 (in the midst of live)“. Das in seiner zerbrechlichen „Nacktheit“ (hautfarbene Kostüme) berührende Duett von Hausherr Ricardo Fernando war diese Spielzeit im Rahmen des Augsburger Ballettabends „Made for Two. Reloaded“ auf der kleineren Brechbühne uraufgeführt worden. Interpretiert von Lucie Horná und Mateo Mirdita machte es einmal mehr das hohe Niveau der schwäbischen Kompanie deutlich, von der sich auch immer wieder Gäste inspirieren lassen. Einer davon ist Andonis Foniadakis, mit dessen wie Quecksilber über die Bühne rauschendem „Bonds“ das Ensemble sein Publikum nach zweieinhalb erfüllten Stunden in die Nacht verabschiedete. 

Unvergesslich in Erinnerung bleiben werden aus der diesjährigen Augsburger Ballett- und Tanzgala zu guter Letzt zwei Uraufführungen: zwei Stücke – ein Solo und ein Sextett – beide zum Niederknien. Mit ihnen hintereinander eröffnete Fernando den zweiten Teil des Abends. Womöglich als Kompensation für die ausgefallenen Nummern hatte er eine andalusische Tänzern aus seinem eigenen Ensemble mit einer Choreografie „über sich selbst“ beauftragt. Ihr Solo, das unter Mitwirkung von Leander Veizi (Mitglied der Tanzcompany am Theater Regensburg) entstand, kündigte er mit den Worten an: „Fatima López García kann singen, sie kann sich bewegen und sie beherrscht den Flamenco.“ Mitglied im Augsburger Ensemble ist die umwerfende Künstlerin – mit choreografischem Talent und Bühnenerfahrung unter anderem vom Ballet Preljocaj Junior in Aix-en-Provence und aus Regensburg unter Wagner Moreira (2022-2024) – erst seit dieser Saison. 

Ihre beeindruckende Kreation „Raíces“ (übersetzt „Wurzeln“) beginnt Fatima López García auf einem Kubus sitzend. Sie trägt einen roten Hosenanzug. Ihre Stimme kommt mühelos über die Rampe. Auf ein Fingerschnalzen folgt das Klackern der Absätze auf hölzernem Boden. Doch schnell vermischen sich die Elemente des Flamencos mit den Vibrationen und körperlichen Impulsen des modernen Tanzes. Typische Gitarrenklänge (Santiago Lara) verdrängen die Stille. Zwischenzeitlich wird bäuchlings am Boden liegend getanzt und anstelle der sich später anschließenden Zapateados wirbeln die Hände und Knöchel vor Kopf und Brust der Tänzerin lautstark umher. Das Stück ist ein echter Gala-Knüller – höchst sinnlich, ästhetisch schlicht, kurz und dramatisch prägnant.

Ihre ureigene poetisch-narrative Nische als Choreografenduo haben die Tänzer Sasha Riva und Simone Repele mit Gründung ihrer eigenen Kompanie RIVA & REPELE im Jahr 2020 gefunden. Beide studierten an der Ballettschule des Hamburg Ballett unter Leitung von John Neumeier, tanzten einige Jahre beim Ballet du Grand Théatre de Genève und traten wiederholt in Augsburg auf. Jetzt haben sie extra für die Gala ihr Drei-Personen-Tanzstück „Theory of letting go“ zu einem Sextett mit dem neuem Titel „Old Land“ erweitert. Die Bühne ist schummrig, die Besetzung mit Riva und Repele selbst, Yumi Aizawa, Rosario Guerra, Anne Jung sowie Gaia Mentoglio einfach erstklassig. Das Thema allerdings mutet bedrückend an, geht es doch – unausweichlich für jeden – ums Altern. Riva und Repele beherrschen es jedoch, sich ihren Sujets stets überaus menschlich, einfühlsam, mit der notwenigen Beobachtungsgabe, viel Empathie und klugem Witz zu nähern. Dadurch lassen sich ihre Arbeiten durchaus in einem Atemzug mit inhaltlich vergleichbaren Werken von Jiří Kylián oder Sol Léon/Paul Lightfoot nennen.

„John“ ruft eine krumm und gebückt aus den Kulissen schlurfende Frau. Sie blickt sich um. Ungeduldig wiederholt sie sich. Beim dritten Mal schreit sie den Namen des Mannes regelrecht ins Publikum, bis dieser schließlich langsam, einen Koffer in der Hand, kommt. Im Hintergrund werden zwei weitere Paare – ebenfalls mit je einem Koffer – sichtbar. In „Old Land“ treten sie ihre letzte Reise ins schwarze Ungewisse an. Zu zweit, verbunden durch die Farbe ihrer Kleider und alle gemeinsam mit eingestaubtem grauen Haar. Ihre Körper wirken welk, die Lebenskraft verbraucht. Wären da nicht ihre Erinnerungen, die sie noch – frisch und plötzlich beweglich wie Teenager – in fulminanten Duetten auszudrücken verstehen. Die Art und Weise, das vergangene Leben und die Eigenartigkeit partnerschaftlicher Verbindungen Revue passieren zu lassen macht „Old Land“ zu einem tiefberührenden Tanztheater-Erlebnis. Was hätte in München aus Lacarras „Lost Letters“ werden können, hätte sie sich mit derart klugen und guten Choreografen zusammengetan. 

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