NEWSROOM - #2
Die neueste Folge unserer Newssendung zu Tanz aus Bayern
Die vom Komponisten Max Richter 2012 für die Gegenwart zurückgewonnene, bis heute mitreißende Übertragung vielfältiger Erscheinungen, Atmosphären und Erlebnisse des Menschen mit der Natur anno 1725 durch Antonio Vivaldi in stimmungsvolle und lautmalerisch klare, immer nach vorn treibende Takte, Melodien, Akkorde und Klänge ist schlicht Balsam für die Seele. Als Choreografin ist Dumais bis heute Tänzerin geblieben. Das Werk der ehemaligen erfolgreichen Solistin des National Ballet of Canada, die vor mehr als zwanzig Jahren von Reid Anderson vom Stuttgarter Ballett als Choreografin für Deutschland und Europa entdeckt worden war, besteht aus einer schier unglaublichen Fülle an choreografischem Material, das sie in Teamleistung mit ihren Tänzerinnen und Tänzern entwickelt hat, wie sie nach der Aufführung betont.
Gänzlich eigener Stil
Ihre hervorragend trainierte Compagnie lässt sie damit wie unter Hochdruck tanzen. Tanzliebende finden bei Dumais, die auch als versierte Dozentin für funktionelle Anatomie und Bewegungsanalyse gilt, insofern alles, was das Herz beim heutigen Besuch einer Tanzvorstellung am Theater begehrt: eine an George Balanchines Credo geschulte Schnelligkeit, eine an Jirí Kylián entwickelte Arbeit in der tiefen zweiten Position und einen vor allem bis heute an Forsythe orientierten Umgang mit Linien und Raum um den Körper und im Umraum. Dumais hat aus den vielen Einflüssen in ihrer eigenen Karriere und der genauen Kenntnis von den Möglichkeiten des Körpers einen eigenen, bis heute tragenden, abstrakten Stil dynamischen, zeitgenössischen und dabei präzisen Balletts jenseits des Tanztheaters entwickelt, der es ihr erlaubt, sowohl bewegungsvirtuos und souverän mit der Gruppe im Raum umzugehen als auch auf dieser Materialbasis Grenzen auszuloten. So genoss man einerseits choreografische Intensitätssteigerungen in den einzelnen Gruppenszenen, denen meistens, um die Balance zu halten, immer irgendwo ein Solo entwich, angefangen beim munter machenden Frühling über die Hitze des Sommers bis zur kurzzeitig atemlos machenden Gruppenvariation zur musikalisch hörbaren klirrenden Winterkälte. Andererseits erregten manche Duette Aufmerksamkeit.
Erzählerische Qualität
Eingehüllt in weißgraues Licht trug Matteo Merso relativ am Anfang die filigran wirkende, jedoch kraftvolle und ausdrucksstarke Alba Valencia Lopéz wie ein rundes Päckchen auf der Höhe seiner rechten Brust und Schulter. Man sah nur ihren gerundeten Rücken. Von dort aus entfaltete sie ihre Glieder in den Raum, minutenlang ohne den Fuß auf die Erde zu setzen und wenn, dann fanden ihre nackten Sohlen Platz auf seinen Fußrücken. Noch mehr erzählerische Qualität entfaltete die Konstruktion von Maya Tenzer und Mirko Ingrao. Erst Sekunden später erkannte man, dass der gefühlsintensiv tanzende Ingrao jene Position eingenommen hatte, die man normalerweise von Frauen in heteronormen Pas de deux kennt. Tenzer hob und trug ihn oder ließ ihn auf den Boden gleiten, während er sich fallen lassen durfte. Dann wechselten sie unmerklich die Positionen, und Ingrao übernahm das Heben, Tragen und Halten. Sichtbar wurde so die Erkenntnis über eine Beziehung von Mann und Frau auf Augenhöhe, in der beide jeweils dem anderen Sicherheit, Halt und Raum, aber vor allem Verbundenheit miteinander schenken. Dem heutigen Mainstream einer gendergerechten Verteilung gerecht werdend tauchten an anderen Stellen im Stück ein Duett, getanzt nur von Frauen, oder ein Duett, getanzt nur von Männern, auf, die jedoch choreografisch nicht dieselbe Raffinesse aufblitzen ließen.
Dramaturgische Schwächen
So sehr die Choreografie, die von Kerstin Laube entworfenen, durchscheinend transparenten Kostüme in den verschiedensten Farbtönen und die noch näher zu besprechenden Videobild-Projektionen von Paul Zoller ein wahrhaft sinnliches und erfüllendes Erlebnis bedeuteten, wies das Stück in der Dramaturgie insgesamt jedoch Schwächen auf. Um im Bild zu bleiben: Die Würzburger „Vier Jahreszeiten“ wirkten wie jener Frühling, der nur mit der Hälfte seiner Samen als voll erblühte Pflanzen den Sommer erreicht hatte, während jene Blüten, die wie im Traum bereits hervor geschossen waren, kurz angesehen und danach ignoriert worden waren. Im Gegenzug erschienen plötzlich Wintergewächse, über deren Einpflanzung vorher nicht informiert worden war. Kunstanalytisch gesprochen, lassen diese Würzburger „Vier Jahreszeiten“ eine Klärung möglicher relevanter Kontextualisierungen sowie des Umgangs mit Ort und Zeit über die erzählte Zeit der fortlaufenden vier Jahreszeiten hinaus offen, als ob keine Zeit zum dramaturgischen „Putzen“ gewesen ist. Vielleicht sind diese Kontextualisierungen aber auch nur viel zu zart hinterlegt, um mühelos einer eigenständigen Erzähllinie auf die Spur zu kommen.
Kosmos aus Zellen
Infolgedessen erzeugten die vielen einzelnen Bilder, zu denen sich das Stück wie in einem Kaleidoskop ausformte, keinen narrativen Sog. Vor allem die tollen Anfangsbilder von Szenen oder Kapiteln verliefen narrativ oft eher im Sand, so bereits zu Beginn, der ein großartiger Caspar David Friedrich-Moment à la weiblich starker Choreografie hätte werden können. Hinter dem Gazevorhang, auf den die leuchtende Iris eines menschlichen Auges projiziert war, tauchte wie auf einer Anhöhe als Schattenbild der Umriss einer Frau auf: Alba Valenciano Lopéz. Doch viel zu schnell verschwand sie, und die anderen Tänzer schoben sich über die Anhöhe auf die Bühne, einen Kosmos aus Zellen oder kleinen Tieren darstellend, der sich dann aus der Erde erhebt. Auch das ein schön umgesetztes Bild, jedoch erschloss sich der Zusammenhang zum Eröffnungsbild nicht. Dann erfolgte das Duett zwischen Lopéz und Merso, und man fragte sich: Wer ist sie? Geht es um sie? Ist sie eine Frau, die getragen werden muss? Das Stück ließ auch dieses Bild für sich stehen, ohne weiter dramaturgisch sein eigenes Subjekt zu klären. Stattdessen tauchten die Tänzerinnen und Tänzer plötzlich als Kakadus, Papageien oder Kanarienvögel auf. Später dann aber ereignete sich eine intensive Begegnung zwischen Lopéz und einer anderen Tänzerin.
Uneindeutige Fragen
Es drängte sich die Frage auf, zu welcher wirklich relevanten Aussage über den Menschen, die Welt, die Musik oder sonst irgendetwas das Stück, wie es Dumais´ mit ihrem Team angelegt hatte, kommen sollte, und wenn es „nur“ die These sein könnte, dass die aktuellen Zeitverhältnisse es den Frauen in der Welt wieder schwer machen werden, ihren Weg der Selbstermächtigung weiter zu gehen. Oder warum sonst sind in diesen „Vier Jahreszeiten“ die großen Solorollen ausschließlich mit Frauen besetzt und nur im Winter taucht ein Männerpaar auf und die beiden versuchen, die Frau mit Gewalt über den Boden zu ziehen? Oder warum sonst schließt sich das Auge in der Projektion im Schlussbild und die Compagnie im Kleid des Winters verstreut sich mit ihrer starken und geheimnisvollen Aura im Publikum, es erwartungsvoll anblickend?
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