Verbindendes

Zwei Frühlingsmatinéen der Heinz-Bosl-Stiftung im Nationaltheater München

Nur eine Woche lag zwischen den beiden bewegenden Matinéen. Vor allem die 2. führte dem Publikum vor Augen, was es heißt, in Freiheit zu leben und zu tanzen.

München, 15/04/2022

Am 10. April war das Solistentanzpaar Irina Khandazhevskaya und ihr Ehemann Anatoli Khandazhevskyi vom „Nationalen Akademischen Opern- und Balletttheater“ aus Kharkov zu Gast bei der traditionellen Frühlingsmatinée der Heinz-Bosl-Stiftung.  Seit dem 21. März trainiert das Solistenpaar dort. Darüber hinaus hat die Stiftung zum Zeitpunkt des 3. Aprils dreizehn ukrainische Tänzer*innen aufgenommen. Wie man sieht, kennt hier Solidarität keine Grenzen.

Die Jugend hat es sichtlich genossen, die Grenzen der digitalen Welt zu überwinden und wieder vor echtem Publikum tanzen zu können. Das prominente Nationaltheater bietet dafür den idealen Rahmen, wofür nicht nur die Bosl-Stiftung sondern auch das Publikum stets dankbar ist.

Begonnen hat die Matinée mit Jiří Kyliáns „Un ballo“, einem choreografisch anspruchsvollen Stück, das weit mehr als eine rauschende Ballszene ist. Zwischen Jugend und „Vergänglichkeit des Lebens“ (Kylián) bewegt sich diese teils unbeschwerte und doch bedrückende Choreografie, die für das junge Nachwuchsensemble des „Nederlands Dans Theater“ (NDT) kreiert wurde. Mit dem Thema der Vergänglichkeit und des Ablebens ist dieses Werk, dessen Anfang buchstäblich im Dunkeln liegt, im wahrsten Sinne als düster und expressiv zu bezeichnen, bevor allmählich einzelne Lichter zu einem Lichtermeer entzündet werden.

Es folgte das leichtfüßige, schwungvolle und temporeiche „Klassenkonzert“ der Komponisten Riisager/Czerny nach einer Idee von Jan Broeckx, dem Leiter der Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater München. Mit von der Partie: flinke Beine und Füße, die einem Tausendfüßler in nichts nachstehen. Wer sich an das Aufreihen von Perlenketten erinnert fühlt - warum nicht?

Auch in dem sich anschließenden Pas de Deux „Ballett 102“ von Eric Gauthier, das am 3. April zu sehen war, geht es um Präzision, ähnlich der eines „Schweizer Uhrwerks“. Es ist eine augenzwinkernde Satire auf Figuren des klassischen Balletts mit seinen 102 Positionen, die in zunehmender Geschwindigkeit angesagt werden. Dem Paar Maxine Morales und Luca Massara gelingt es spielend die Anweisungen exakt und mit Witz auf die Bühne zu bringen.

Aus aktuellem Anlass stand bei der 2. Matinée statt des „Ballett 102“ das Solistentanzpaar Irina Khandazhevskaya und ihr Ehemann Anatolii Khandazhevskyi aus Kharkov auf dem Programm. Hochemotional war der Auftritt dieses Tanzpaares, das mit Eleganz kraftvoll und ausdrucksstark den „Pas de Deux“ aus dem 2. Akt von „Schwanensee“ tanzte - ein Tanz in die Freiheit.

Originell und voller Witz ist die in enger Zusammenarbeit mit Student*innen und den Choreograf*innen Jasmine Ellis und Matteo Carvone entstandene zweiteilige Kreation „You (among us)“, die sich mit dem Thema Identität, Herkunft, Diversität auf originelle Art und Weise auseinandersetzt. Unbestritten ist, dass gerade dieses Werk von in der freien Szene arbeitenden zeitgenössischen Choreograf*innen den Tänzer*innen des Bayerischen Junior Ballett ganz besonders liegt, die hier individuell im Gesamtgefüge des Ensembles ihre Persönlichkeit und ihr Temperament überzeugend zum Ausdruck bringen: Ob als Hühnchen, das an die Hühner in „La Fille mal Gardée“ erinnert oder in Form von slapstickartigartigen Elementen, die mit ausgefallenen Damenschuhen auf die Bühne gebracht werden. Da fliegen dann und wann auch schon einmal Schuhe durch die Luft. So vielschichtig ist „You (among us)“ angelegt, dass auch die Tänzer*innen vor einem Mikrofon selbst kurz zu Wort kommen. Alle begrüßen sich in ihrer Landessprache, zuweilen unterbrochen von einem Trillerpfeifenduell. Auch Beethovens Neunte wird karikierend eingesetzt: Die Musik braucht mehrere Anläufe, um mit dem endgültigen Schlussakkord das Werk zu beenden.

Ganz im Zeichen der Jugend und des Gemeinsinns standen die Matinéen auch deshalb, weil das „Attacca Jugendorchester“ des „Bayerischen Staatsorchesters“ unter der musikalischen Leitung von Allan Bergius mit Aaron Coplands Werk „Appalachian Spring“ den musikalischen Rahmen für das „Bayerische Juniorballett“ bot. In Pastellfarben und fließenden Bewegungen der präzise und zugleich ausdrucksstarken agierenden Tänzer*innen wurde die Bühne in frühlingshafte, stimmungsvolle (Klang)Farben getaucht. Copland zu spielen ist neben der komplexen Rhythmik, den vielen Taktwechseln, der Intonation und dem musikalischen Ausdruck per se eine Herausforderung. Ballett und Musiker darüber hinaus in Einklang zu bringen, bedeutet die Steigerung dessen. Musiker*innen wie Tänzer*innen wurden dieser anspruchsvollen Leistung gerecht und vom Publikum mit reichlich Applaus belohnt.

Wenn die Laudatorin des Konstanze Vernon-Preises Birgit Keil bemerkt, dass „der Tanz Raffaele ausgesucht hat“, geht es dabei um Rafaelle Queiroz, die hier absolut zu Recht mit dem renommierten Konstanze Vernon-Preis ausgezeichnet wurde. Einen zu bewundernden Einblick in Queiroz Welt der Perfektion, der Geradlinigkeit und Ernsthaftigkeit bot die junge Brasilianerin, Mitglied des Balletts Zürich, an der Seite ihres Mannes Thiago Bordin in Verdis „Messa da Requiem“.

Beide Matinéen zeichneten sich nicht allein durch das vielfältige tänzerische und musikalische Können der Jugend und ihrer Tanzpädagog*innen aus. Sie waren vielmehr ein Tribut an die Gemeinschaft, an die Freiheit und an die Jugend, die ihre eigenen hohen Maßstäbe setzt. Was will man mehr, wenn wir als Publikum daran teilhaben dürfen? Zu hoffen bleibt, dass die Kunst als Oase der Kultur, des Friedens bestehen bleibt, sich fortsetzt und „Corona (als Bedrohung) nicht mehr um die Ecke schaut“, wie es Jan Broeckx formuliert, damit in Zukunft auch für die Jüngsten der Akademie die Bühne Realität werden kann.

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