Kunst der Verzauberung
Die Jubiläumsausgabe von Think Big!, dem Festival für junges Publikum in München, lädt zum Träumen ein und hält den Spiegel vor
Stephanie Felbers „Apon Paron“ und „Hole in Space“ von Diego Tortelli aus München
Mit Leere muss man rechnen bei einem Stück über die Präsenz des Abwesenden. Im auf graue Wartehalle getrimmten Schwere Reiter, umgeben von ungleich verspiegelten mobilen Trennwänden, zwingt das Nichts der Uraufführung „Apon Paron“ von Stephanie Felber die Besucher*innen erst einmal geduldvoll abzuschalten. Zehn Minuten lang eiert ein dumpfer Klang herum, der zwar reicher und strukturierter wird, sich dann aber zurück ins Stumpfe reduziert. Auf das akustische Bad folgt visueller Kontrollverlust.
Erste tänzerische Interventionen schälen sich aus der Verborgenheit – einem Bereich, der sich hinter den Rücken der Zuschauer*innen befindet. Um den immobilen Betrachter herum wird mit sich sporadisch verändernden Sichtlabyrinthen nebst holographischen Doppelgängern der drei Tänzer*innen Angela Wörgartner, Nikos Konstantakis und Ludger Lamers gespielt. Das in Schwarmformation auf vier Ecken verteilte Publikum bleibt ganz sich selbst überlassen.
Nicht einmal, wenn man sich stark verrenkt, lässt sich der Raum und alles, was dort passiert, überblicken. Unaufhaltsam rutscht man so über kurze, Aufmerksamkeit heischende Momente in die sich langsam entfaltende Wirkung von Felbers Versuchsanordnung hinein, immer in der Gefahr, die Simulation neben sich vielleicht gerade zu verpassen.
Was die Münchner Choreografin ambitioniert ersonnen hat, um „Liveness“ im Spannungsfeld zwischen Zwei- und Dreidimensionalität zu hinterfragen, erinnert in seiner Qualität ein wenig an ein zu Bruch gegangenes Smartphone: Optische und gesprochene Informationen wirken nur mehr splitterhaft. Deren Verarbeitung stößt im Gehirn ein Gedankentheater um das tatsächliche bzw. mediale Auftauchen und Verschwinden der stets bedächtig-bedeutungsvoll auftretenden Performer*innen an. Nach einem 75 Minuten währenden Dschungel stiller Eindrücke stolpert man ins Tageslicht. Gierig auf echtes Leben zum Anfassen.
Frappant kurze 20 Minuten dauert Diego Tortellis bildstark durchchoreografierte Hommage an die weltweit erste Videochat-Installation von Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz. Per Satellit und zwei großen Displays hatten die beiden Künstler*innen damals verblüffte Menschen in New York und Los Angeles miteinander verbunden. „A Hole in Space LA-NY, 1980“ – abrufbar bei YouTube – war ein Markstein auf dem Weg zur heutigen digitalen Norm. Den damaligen Tonmitschnitt verarbeitet Schlagzeuger Federico Bigonzetti in seiner Originalkomposition für Tortellis Projekt. Infolge pandemischer Produktionsbedingungen verlagerte sich sein Mitwirken – genau wie das des Performers Corey Scott-Gilbert, der erst den Animateur, später den Voyeur gibt – via Bildschirm ins Virtuelle.
Tortellis „Hole in Space“ war ursprünglich als PopUp-Show auf dem Celibedacheforum geplant. Dann verlegte man die Produktion komplett ins Digitale. Das gab dem Lichtdesigner Roman Fliegel die Möglichkeit, sich im Raum farblich stimmungsmalend auszutoben. Und Sebastian Lehner hat die Aufführung derart dynamisch aus dem Mittendrin gefilmt, dass er den Zuschauer*innen bisweilen regelrecht an den Protagonist*innen vorbeigleiten lässt. Auf zwei (im Stream leider sehr kleinen) Screens am Bühnenrand werden wechselnde Bilder eingeblendet. Auch ist dort mal „Rec“ bzw. „Connect“ zu lesen. Davor entfalten die sechs Tänzer*innen auf freiem Plateau bis zur Anzeige „Off Line“ ihre umtriebige Sogkraft.
Die zeitgleich uraufgeführten Arbeiten von Felber und Tortelli konterkarieren und ergänzen sich in Machart, Rezeptionsmöglichkeit sowie in ihrem Fokus auf das uns stark beeinflussende Digitale. Wo und wie kann man sich in digitalen Kommunikationsforen weiterhin wohlfühlen? Eine mögliche Antwort hierauf bietet nur noch Tortellis „Hole in Space“-Stream. Denn dieser ist nach wie vor auf dringeblieben.de abrufbar.
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