Den engagiere ich!

„GREY“ von Sophie Haydee Colindres Zühlke & Serhat „Saïd“ Perhat am Münchner Volkstheater

Die allererste Tanzproduktion fürs Volkstheater. Damit ist es das letzte der klassischen Sprechtheaterbühnen in Bayerns Hauptstadt, das nach den Kammerspielen, dem Residenztheater, dem Theater der Jugend u.a. nun auch auf den Tanz setzt. Hier kommt der Impuls aus der Urban Dance Szene.

München, 23/03/2025

Wir Menschen sind und fühlen, wie wir uns bewegen. Ganz besonders scheint dies auf Streetdancer zuzutreffen. Ihre Moves und Gesten sind enorm impulsiv. Es lässt sich aber auch im Alltag bei Passanten beobachten, die – wenn’s eng wird – umsichtig oder (meist) rücksichtslos durch die Menge navigieren. Äußere Einflüsse und psychischer Druck lassen uns mal schneller, mal langsamer werden. Nähe, Abstand und Körperhaltungen verraten viel über jemanden und sein Verhältnis zu anderen.

Eine Vision über die Konflikte, Ängste, Stärken und den Zusammenhalt in einer Gemeinschaft ist aktuell unter dem Titel „Grey“ im Münchner Volkstheater zu sehen. Es handelt sich um die allererste Tanzproduktion überhaupt an diesem Haus. Und für eine Produktion, die ganz und gar von und durch das individuelle Auftreten ihrer faszinierenden Protagonist*innen lebt, ist die kleinere Bühne 2 des Volkstheaters der perfekte Ort. Zudem ist sie der „Heimspielort“ für den mitwirkenden Breaker Jawad Raipoot, der seit 2024 als Schauspieler hier festes Ensemblemitglied ist.

Das Stück haben Sophie Haydee Colindres Zühlke & Serhat „Saïd“ Perhat gemeinsam mit ihren Tänzer*innen entwickelt. Beide kennen sich bestens in der urbanen Szene aus, die in „Grey“ mit ihren Menschen und Orten selbst zum Thema wird. Davon, wie sehr man sich untereinander kennt, schätzt und auf Synergien setzt, zeugt, dass Anne Schwarzelt und Brooklyn Odunsi Ifeacho mehr als bloß mittanzen. Sie sind auch für Bühne und Kostüme verantwortlich – und damit für den künstlerisch verfremdeten und auf unterschiedliche Grautöne reduzierten Look der 75-minütigen Vorstellung. Auch Konstantin Hofmann, ein weiteres junges Multitalent, performed mit. Er tanzt, seit er neun Jahre alt ist. Später kam bei ihm die Musik dazu. Das Sounddesign und die – seltener als erwartet – feierfreudig pushenden Beats zu „Grey“ sind seine Kreation.

Insgesamt treten neun Tänzerinnen und Tänzer in Outfits auf, die ihre Körper teils stark verhüllen und mit Kappen, Tüchern und Gesichtsmasken alle individuell sehr eigenwillig gestaltet sind. Manches erinnert an Beduinen, anderes an Mutanten. Allein die Haptik der Stoffe und wie diese getragen werden ist so divers, dass man die Gruppe sofort für eine SiFi-Fortsetzung von „Dune“ engagieren müsste.

Choreografisch beeindruckt, wie sie über den Boden schlurfen, sich hinter herabhängenden Stoff- und geschlitzten Plastikbahnen herumdrücken, voreinander fliehen und in Duos aneinander geraten – ab und an akrobatisch und kampfkunsttauglich spektakulär. Sogar ein Brüllen ist mitinszeniert: Der größte unter den Tänzern zwingt den Rest der Truppe damit in die Knie. Kurz darauf wird er von unten herauf von vielen Händen begrapscht und verschwindet inmitten der ihn umringenden Körper.

Sich in Variationen wiederholende Auf- und Abritte – im Kollektiv unter Bühnenbildhängern hindurch – führen mit der Zeit zu einer Art Bumerang-Effekt. Das passt schlüssig zu einer Arbeit, für die im Programmheft Züge und Tunnelsysteme der U-Bahn als mögliche Verortung genannt werden. Der daraus resultierende Drive und das manchmal bewusst gebremste Tempo verleihen „Grey“ letztlich eine sonderbare Zäh(flüssig)igkeit – trotz szenisch geschickt gelöster Übergänge. Umso mehr wird das Publikum durch die punktuell erzählerisch eingebauten bewegungsintensiven Szenen angetriggert.

Es war Zufall, dass Intendant Christian Stückl Serhat Perhat, der sich auf der Bühne „Saïd“ nennt, kennengelernt hat. Einem breiteren Publikum wurde der gebürtige Münchner uigurischer Abstammung letztes Jahr durch den Dokumentarfilm „2Unbreakable“ über zwei Breakdancer bekannt, die sich auf die Olympischen Spiele  in Paris vorbereiten. „Ich bin mit ins Kino gegangen“, verrät Stückl kurz vor der Uraufführung. „Im Anschluss an den Film hat Saïd erzählt, was er so machen will. Da habe ich mir gedacht, den engagiere ich.“ Gesagt, getan. Bei der Wahl des Sujets ließ Stückl Saïd und Choreografin Sophie Haydee Colindres Zühlke völlig freie Hand.

Inhaltlich inspiriert wurden Zühlke und Perhat offensichtlich von düsteren Zukunftsaussichten und der Tatsache, dass die Menschheit derzeit weltweit auf Abgründe zusteuert. Immer wieder sind in der Choreografie der beiden tänzerisch eindrücklich Momente von Vereinzelung und fantastischen Körperballungen herausgearbeitet. In Freeze-Abfolgen – eingefrorenen lebenden Bildern, für die die Interpret*innen in kurzen dunklen Sekunden stets neue Posen und Gesichtsausdrücke annehmen – schlüsseln sie das Auseinanderdriften einer Gruppe, deren Leiber gerade noch total ineinander verknotet waren, quasi in Zeitlupe auf. Das lässt an Standbilder einer Videoüberwachung denken. Ob die Gemeinschaft den Untergrund verlassen wird, bleibt am Ende offen. Das Ganze macht jedenfalls viel her.

 

Als nächstes zeigt das Volkstheater am 27. Und 28. Mai im Rahmen des International Dance Festivals „Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich“, ein Schlüsselwerk von Anne Teresa De Keersmaeker, das noch nie auf einer Münchner Bühne zu sehen war. Es stammt aus dem Jahr 1982 und machte die belgische Choreografin berühmt. Karten unter www.dance-muenchen.de.

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