In gut 75 Vorstellungen mit sechs Schwerpunktsetzungen präsentierte sich der zeitgenössische Tanz dem Münchner Publikum in seiner ganzen Wirksamkeit und Vielfalt. Das Wetter spielte nicht immer mit, der ausgelassenen Festivalstimmung tat das aber keinen Abbruch. Dabei standen die Voraussetzungen für die 18. Ausgabe der Tanzbiennale zunächst alles andere als gut. Zögerlicher Vorverkauf als Spätfolge von Corona, steigende Preise und überlastete Theaterkapazitäten und das baubedingte Wegfallen der Stammspielstätte Carl-Orff-Saal in der Planung erschwerten die Durchführung. Durch den unermüdlichen Einsatz des Festivalteams gelang es schließlich dennoch, ein breitgefächertes Programm auf die Beine zu stellen, das neben mittleren und kleinen Produktionen, Newcomern und Sonderformaten im öffentlichen Raum auch große „Tanzblockbuster“ zeigen konnte.
Eröffnet wurde DANCE am Donnerstagabend mit einem atemberaubenden Paukenschlag, der gleichzeitig auch die letztendlich doch noch möglich gemachte Neueröffnung des Carl-Orff-Saals im neuen FAT Cat bedeutete. The Pretty Things der bis dahin in Europa noch weniger bekannten kanadischen Choreografin Catherine Gaudet riss das Publikum beim Applaus von den Sitzen. Die 50-minütige Performance schickt die fünf Tänzer*innen in feinen geometrischen Konstellationen, sich um die Achse drehend, später kickend und springend durch den Raum. Stetig steigert sich die Energie, bis sie sich schließlich in rauschhafter Ekstase entlädt. Zum Fokus Montreal, der sich wieder aus der künstlerischen Spitzenqualität dieser Tanzstadt ergeben hatte , schloss sich am ersten Wochenende die Europapremiere von «M» der bei DANCE bereits bestens bekannten Starchoreografin Marie Chouinard an. Ein knallig-bunter Abend, in dem der Atem als Rhythmusgeber den Tanz führt. In der Freiheitshalle, die für das Festival als neuer Spielort erschlossen wurde, zeigten Andrew Tay und Stephen Thompson ihre Catwalkperformance Make Banana Cry, die mit viel Humor und Überzeichnung unsere Stereotypen von Asien ausstellt. Im Anschluss kam man bei Sushi zum Gespräch zusammen.
Im Rahmen der großen Produktionen bei DANCE feierte der Shootingstar der Münchner Szene, Moritz Ostruschnjak, mit Rabbit Hole seine Uraufführung und lud das Publikum in das pausenlose Gewirr der digitalen Welt ein. Mathilde Monniers Records beschäftigte sich mit dem Gefühl von Isolation und markierte damit den Festivalprogrammpunkt, der noch am meisten im Zeichen der Pandemie stand. Richard Siegal, Dauergast bei DANCE, zeigte mit seinem Ballet of Difference mit TRIPLE und XERROX VOL.2 gleich zwei Produktionen. Hier gelang es dem Team, das Prinzregententheater als Partner zu gewinnen und das über 1000 Plätze fassende Theater mit einem breitgefächerten Publikum zu füllen.
Nicht nur angesichts des brutalen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine galt es Entwicklungen des zeitgenössischen Tanzes in Osteuropa zu präsentieren. Die sechs Produktionen im größten Fokus des Festivals zeigten junge wilde Choreograf*innen, hochpolitische Inhalte und neue ästhetische Ansätze. Every Minute Motherland von Maciej Kuzminski, getanzt von seiner Kompanie und aus der Ukraine geflüchteten Tänzer*innen, drückte in einer emotionalen Performance Bilder und Erfahrungen aus, die der Krieg in die Körper eingeschrieben hat. Agniete Lisickinaite lud das Publikum in ihrem schlafkräftigen Hands Up, einem von der Münchner Polizei begleiteten Protestmarsch dazu ein, den Akt des Widerstands am eigenen Körper zu erfahren. Der Litauer Dovydas Strimaitis bewies in seinem Trio Hairy 3.0 und seinem Solo The Art of Making Dances seine Fähigkeit, aus einem reduzierten Bewegungsmaterial hochenergetische und immersive Performanceerlebnisse zu kreieren. Lukas Karvelis – ebenfalls aus Litauen – bespielte mit THEO Münchner Tram- und Bushaltestellen – ein Solo rund um das Thema Abhängigkeit, das an Orten wie dem Münchner Nationaltheater krasse Brüche kreierte. Am Abschlusswochenende hüllte Witness der tschechischen Choreografin Vera Ondrašíková das Publikum in seine beeindruckenden Lichtmeere und Nebelwälder ein.
Taiwan – ebenfalls ein in seiner Autonomität bedrohtes demokratisches Land – markierte den dritten länderspezifischen Fokus von DANCE. Auf einem Podest vor dem Muffatwerk, beleuchtet von einer großen Laterne, rundete die Solotänzerin in FreeSteps – NiNi von HORSE den prall gefüllten Festivalauftakt mit magischen Momenten ab. Eine geballte Ladung Energie kam dem Publikum in Go Paiwan des indigenen Tjimur Dance Theatre entgegen – mehrstimmige Gesänge und gemeinsames Ausprobieren der traditionellen Tänze inklusive. Gerahmt wurde Go Paiwan durch den Film bulabulay mun? über die Kompanie und ergänzt durch die Videoinstallation La XXX Punk des taiwanischen Künstlers Fangas Nayaw.
Im Fokus Künstlerreferenzen luden Tony Rizzi und sein Team mit Why Wait? zu einer humoristischen Reise durch ihre Erfahrungen im Frankfurter Ballett unter William Forsythe ein. Am finalen Wochenende fand DANCE mit An Evening with Raimund einen emotionalen Abschluss. Wegbegleiter*innen des 2021 während des DANCE-Festivals verstorbenen Choreografen Raimund Hoghe kamen in diesem intimen Abend zusammen und huldigten dem Stil ihres verstorbenen Kollegen. Katja Schneider sprach mit Hoghes langjähriger Fotografin Rosa Frank über seine Arbeit und die der sich neu gefundenen Kompanie Hoghe + Schulte.
Die DANCE History Tour, seit 2019 ein fester Teil und Alleinstellungsmerkmal des Festivals, wurde in seiner dritten Auflage vom Fahrrad auf die Füße verlegt, vervielfältigt und mit einem weitreichenden Sonderprogramm gerahmt. In drei verschiedenen Walks & Talks wurden die Teilnehmer*innen in bedeutende Orte der Entwicklung der Tanzmoderne wie die Glyptothek, die Münchner Kammerspiele, das Lenbachhaus und die Villa Stuck eingeladen. Die tiefgehenden Rechercheergebnisse von Brygida Ochaim und Thomas Betz reicherten die beiden Initiator*innen der Tour gemeinsam mit Barbara Galli-Jeschek durch Re-enactments im Stile Isadora Duncans, Alexander Sacharoffs und Cothilde von Derps zu einem lebendigen Geschichtserlebnis an. Im Rahmen der dritten DANCE History Tour am Isarhochufer – aber auch darüber hinaus – konnte die renommierte französische Künstlerin Dominique Gonzalez-Foerster gewonnen werden, die in der Villa Stuck mit Hypnogirl 23 eine holografische Illusion der Hypnosetänzerin Magdeleine G. zur Uraufführung brachte. Gina Penzkofer organisierte für das Rahmenprogramm des Fokus Tanzgeschichte ein interdisziplinäres Ausstellungsprojekt zum Thema Queerness und Genderfluidität im Tanz im Habibi Kiosk, Claudia Jeschke veranstaltete im NS-Dokumentationszentrum eine Lecture Performance zu Alexander Sacharoff und Nina Hümpel sprach mit Maria Barrios – einer Schülerin Sacharoffs und von Derps – über ihre Erfahrungen mit den beiden Meister*innen.
Jody Oberfelder, die eigentlich schon bei DANCE 2021 zu Gast sein sollte, konnte nun endlich aus New York anreisen. Durch ihre Öffnung des Tanzes nach außen und ihre Präsenz prägte sie das Festival künstlerisch und menschlich sehr. Ihre Uraufführung des performativen Spaziergangs Walking to Present durch den Olympiapark beschreibt Jutta Czeguhn in der Süddeutschen Zeitung als eine „intensive Erfahrung“. Mit Life Traveler, Jody Oberfelders Brückensolo, bespielte die Choreografin mit ihren sieben Tänzer*innen trotz schlechten Wetters alle zentralen Brücken über die Isar.
Gemeinsam mit dem parallel in München stattfindenden DOK.Fest zeigte DANCE Jos de Putters Dokumentarfilm A Way to B über die inklusive Tanzkompanie Liant la Troca. Der Verein TANZ.media beschäftigte sich in einer Vormittagsveranstaltung zum Thema Bilder im und Bilder vom Tanz.
Eine weitere Uraufführung gab es im Fokus Tanz und Digitalität zu bestaunen. In zwei verschiedenen Varianten von Tracing the Negative Space – in Form einer Live-Performance oder einer Installation im Muffatwerk – übersetzten Angelika Meindl, Tobias Gremmler und Thomas Mahnecke die Bewegungen einer Tänzerin in eine beeindruckende visuelle Digitalkomposition. Und auch das Experience-Center des Deutschen Museum wurde mit einer digitalen Tanzproduktion gefüllt, nämlich Tobias Staabs TRANS CORPORAL FORMATIONS.
Inoffiziell war die Eröffnung von Staabs Produktion am ersten Festivaltag bereits eine Staffelstabübergabe. Tobias Staab wird für die nächste Ausgabe des Festivals die künstlerische Leitung übernehmen. Nach der Öffnung von DANCE für eine breitere Öffentlichkeit, dem Fokus auf die Münchner Tanzgeschichte und dem Aufbau künstlerischer Kontinuitäten in sechs Ausgaben Nina Hümpel heißt es gespannt zu sein, wie Tobias Staab die Tanzbiennale weiterführen wird: Die Erschließung digitaler Felder und der Bezug zur Clubkultur sind hier sicherlich zentrale Stichworte.
DANCE 2021, 18. Internationales Festival für zeitgenössischen Tanz des Landeshauptstadt München
Veranstalter: Kulturreferat der Landeshauptstadt München (Kulturreferent: Anton Biebl, Ansprechpartnerin: Dr. Sabine Busch-Frank)
in Zusammenarbeit mit: Spielmotor e.V.
Kooperationspartner: Access to Dance, Dachverband Tanz Deutschland, Deutsches Museum, DOK.Fest, FAT CAT, Freiheitshalle, HochX, LMU München, Muffatwerk, Münchner Kammerspiele, schwere reiter, TANZ.media, Theaterakademie August Everding, Vertretung der Regierung von Québec
Medienpartner: Münchner Feuilleton, m94.5, MUCBOOK, rausgegangen.de, tanznetz.de
Partner DANCE History Tour: Bayerisches Junior Ballett München, Habibi Kiosk, Heinz-Bosl-Stiftung, Lenbachhaus, Monacensia im Hildebrandhaus, Münchner Kammerspiele, NS-Dokumentationszentrum, Tanztendenz e.V., Villa Stuck, Prof. Dr. Claudia Jeschke
Künstlerische Leitung: Nina Hümpel
Dramaturgie, Mitarbeit künstlerische Leitung und Mitarbeit Presse- & Öffentlichkeitsarbeit: Peter Sampel
Presse- & Öffentlichkeitsarbeit: Yvonne von Duehren
Diskurs und Dramaturgie: Dr. Katja Schneider
Künstlerische Beratung: Dieter Buroch
Spielorte: Carl-Orff-Saal, Deutsches Museum, Freiheitshalle, HochX, Muffatwerk, Münchner Kammerspiele, Prinzregententheater, schwere reiter, Prinzregententheater, Olympiapark sowie auf Brücken und an Tram- und Bushaltestellen
Spielorte Sonderformate & Diskurs: Glyptothek, Lenbachhaus, NS-Dokumentationszentrum, Habibi Kiosk, Monacensia im Hildebrandhaus, Villa Stuck, Hochschule für Film und Fernsehen, City Kino,
Zeitraum: 11. bis 21. Mai 2023
Von Peter Sampel
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