„Walking to present“ von Jody Oberfelder
„Walking to present“ von Jody Oberfelder

Tanz auf den Trümmern

Jody Oberfelders „Walking to present“- Schritte über den Olympiaberg

Auf den Spuren der Geschichte: Ein tänzerisch- performativer Spaziergang durch den Olympiapark in München. Nach mehr als zwei Jahren Entwicklung feierte das Stück Walking to present der US- amerikanischen Choreografin und Filmemacherin Jody Oberfelder bei DANCE München 2023 seine Premiere.

München, 15/05/2023
Von Amelie Bachmann

Durch eine Meditation geführt zu werden: Genau so fühlt sich „Walking to present“ an. Für 90 Minuten erhält man die Möglichkeit, die eigenen Wahrnehmungen und Gefühle zu reflektieren. Ein neues, individuelles Verhältnis zu Raum und Zeit wird geschaffen. Mit der Mischung aus Spazierengehen und Tanz entstehen Verknüpfungen zwischen Bewegungen, Worten und Gedanken. Das Stück lässt allen Teilnehmenden den Freiraum, eigenen Spuren zu erkunden. Welche Rolle spielt die Vergangenheit im Hier und Jetzt? Dieser Frage wird während der Tour wortwörtlich auf den Grund gegangen.

Jody Oberfelder studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Tanz. Im Jahr 1987 gründete sie die Kompanie Jody Oberfelder Projects. Seitdem arbeitet sie erfolgreich als Kunstdirektorin, Choreografin und Filmemacherin in der Tanzwelt. Mit ihren fast 70 Jahren tanzt sie selbst noch in ihren Stücken „Walking to present“ und „Life Traveler“ mit – eine weitere künstlerische Intervention im Münchner Stadtraum. Bei der zweiten Pressekonferenz des DANCE Festivals erklärte Oberfelder die Bedeutung von „Walking to present“: „We want to become closer with the audience“ – Das Stück soll keinesfalls eine normale Performance sein, sondern die Tänzer*innen mit dem Publikum verbinden. Am Ende des Tages ist es eine einzigartige Möglichkeit, in die Welt der Tanzkunst einzutauchen.

„Performing with the audience and not for the audience”

Gemeinsam erprobten die Choreografin und der Produktionsdramaturg Peter Sampel, der zugleich Festivaldramaturg der diesjährigen Ausgabe von DANCE ist, das Stück. Jedoch konnten die Proben nicht unter gewohnten Umständen stattfinden. Per Video-Call gingen Oberfelder im Central Park, New York und Peter Sampel in München ‚zusammen spazieren‘. „Walking to present“ war ursprünglich als Auftragswerk für die Ausgabe von 2021 geplant. Aufgrund der Corona-Pandemie musste die Produktion verschoben werden und konnte sich so noch zweieinhalb Jahre weiterentwickeln. An dem Ort, an dem der Spaziergang später stattfinden sollte, probte das Team rund um Jody Oberfelder, Peter Sampel, den Tänzer*innen Rohan Dhupar, Vanessa Knouse, Paulina Meneses, Ashley Merker, Kate Page, Andrew Sanger und Grace Yi-Li Tong das Stück nur wenige Tage vor der Premiere zum ersten Mal. Nach drei intensiven Probetagen wurde „Walking to present“ am vergangenen Freitag endlich gemeinsam mit dem Publikum uraufgeführt.

Das Stück zählt mit beispielsweise der Dance History Tour und dem Stück „Tracing the Negative Space“ zu den Sonderformaten des Festivals. Es gehört zu den sogenannten Walking Pieces. Diese finden in der Öffentlichkeit und meist im Stadtraum statt. Dabei soll das Publikum mit in die Performance eingebunden werden und selbst zum Teil dieser werden.

„Connecting the past and the present”

Der Ort des Spaziergangs ist von großer geschichtlicher Bedeutung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in den meisten deutschen Städten aus den durch Zerstörung und Luftangriffen entstandenen Trümmern sogenannte Schuttberge erbaut. Auch München besitzt insgesamt drei solcher Trümmerberge – darunter der Olympiaberg.
Aber nicht nur der Olympiaberg trägt Geschichte in sich. Jody Oberfelder hat aus einem sehr bestimmten Grund den Olympiapark ausgewählt – auf der Pressekonferenz erzählte sie von ihren persönlichen Erinnerungen. An den Olympischen Spielen 1972 in München nahm damals ihr Schwager als Hammerwerfer teil. Sie selbst hörte von dem Attentat im Radio, während sie im Bus in Tel Aviv saß. Oberfelder war damals 19 Jahre alt und konnte nicht glauben, dass so etwas passieren kann, da sie von potenziell selbst betroffenen Angehörigen in diesem Moment umgeben war. Das hat bis heute Spuren hinterlassen, und nun kann sie selbst an diesem Ort ihre persönliche Gegenwart mit der allgemeinen Geschichte verknüpfen.

„We are taking the people on a journey”

Es ist wahrlich eine Reise, auf die man sich in dem Spaziergang begibt. Man könnte sie auch als Gedankenreise bezeichnen. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde beginnen die insgesamt vier Gruppen – bestehend aus jeweils zwei Tänzer*innen und ungefähr zehn Teilnehmenden – nacheinander den Spaziergang durch den Olympiapark. In der Gruppe herrscht gespannte Stille. Während des Spazierens achten alle auf verschiedene Geräusche, Menschen und Tiere. Die ersten rhetorischen Fragen werden von einer Tänzerin gestellt. Kommen die zu hörenden Geräusche aus der Natur oder von etwas Anthropogenem? Auf dem Weg stoppt die Gruppe wiederholt. Ziel ist es, die kollektive Vergangenheit mit den eigenen Erinnerungen und Gefühlen zu verbinden. Oberfelder erklärt: Alles, was vor uns passiert ist, steckt bereits in uns und wird uns mit jedem gegangenen Schritt weiterbringen. Bäume sind ein großes Thema während des Spazierengehens. Ihre Wurzeln gehen tief in den Boden. Wenn man das Wachstum eines Baumes imitiert, ergeben sich tänzerische Figuren, die aber trotzdem fest verwurzelt sind und an Monumente oder gar Statuen erinnern. Der Wind treibt die Gruppe weiter. Zu lernen ist, auf sich selbst, aber auch auf andere zu achten. Manche Schritte sind gemeinsam einfacher zu bewältigen. Mit der Hand an der Brust spürt man den eigenen Herzschlag beim letzten Anstieg vor der Spitze.

Ein Kompass fürs Leben

Die einzelnen Gruppen treffen aufeinander und blicken jetzt auf die Skyline von München. Wie sah es hier vor 50 Jahren aus? Musik beginnt langsam im Hintergrund zu erklingen. Das Tanz-Team ist inmitten der Aussichtsplattform bereits positioniert. Höhepunkt der Produktion ist der Tanz auf der Spitze des Olympiabergs. Ein Tanz auf den Trümmern. Nicht nur die Teilnehmenden schauen begeistert auf die tänzerische Gruppendynamik in der Mitte, auch alle anderen Menschen zücken ihre Mobiltelefone und filmen das Spektakel. Die Tänzer*innen bewegen sich danach zu ihren jeweiligen Gruppen und bilden eine Menschenkette mit ihnen. Hand in Hand verlassen alle Teams gemeinsam die Spitze. Dort trennen sich die Wege der Gruppen, und jede einzelne folgt der eigenen Route den Berg hinab.
Ein letztes Mal versammelt sich die Gruppe im Kreis. Als Erinnerung und Dankeschön für die Teilnahme bekommt jedes Mitglied einen kleinen Kompass überreicht. Die Performance endet mit den Worten: Wenn ihr euch einmal im Dasein verlauft – schaut auf den Kompass – er wird euch die Richtung der Schritte auf eurem Lebensweg zeigen!

Dieser Text entstand im Rahmen einer Kooperation mit Studierenden des Instituts für Theaterwissenschaft an der LMU unter der Leitung von Anna Beke.

Kommentare

Noch keine Beiträge