Von Seraphim Flassig
Barfußtanz ist nichts Neues. Vielen kommt hier vielleicht Isadora Duncan in den Sinn. Allerdings war sie keineswegs die Erste, die ohne Schuhe tanzen konnte. Indigene Völker praktizierten ihre rituellen Tänze auch oft barfuß. Und allein dieses Merkmal unterscheidet die Tänzer*innen des Tjimur Dance Theaters von ihren Zuschauer*innen, welche rund um die weiße, quadratische Tanzfläche verteilt auf Stühlen und Kissen sitzen. Denn die Tänzer*innen setzen sich nach der lockeren Begrüßung einfach dazu und lassen so gar nicht erst zu, dass sich eine vierte Wand aufbauen kann. Aus der Stille wächst langsam, aber nicht zaghaft, ein Singsang empor, der stark an Kehlkopfgesang erinnert. Nach und nach steigen alle Performer*innen darin ein.
Sie beginnen sich zu erheben, während sie immer stärker summen und dazu übergehen, verschiedene Laute zu erzeugen. Diese Klangatmosphäre und ihre ruhigen Bewegungen verbreiten in dem eigentlich kahlen großen Raum der Freiheitshalle eine spürbar meditative Stimmung. Da kommt einer der Tänzer auf das Publikum zu, streckt seine Hand aus und bittet somit eine Zuschauerin zum Tanz. Nach kurzem Zögern folgt sie ihm und gemeinsam legen sie sich auf den Boden. Auch ich werde aufgefordert und nach der kurzen Anweisung meine Hand auf Hals und Brust des Führenden zu legen, um seine Vibrationen zu spüren, bewegen wir uns, wie in einem höheren Seelenzustand gemeinsam summend über die Bühne.
Was ist Paiwan?
Die Gesänge sind, laut der Gruppe des Tjimur Dance Theaters, originale Melodien und Lieder des paiwanesischen Volkes. Dieses ist der drittgrößte eingeborene Stamm der Insel Taiwan, dessen Bräuche und Kultur durch solche Performances nicht nur erhalten, sondern auch in die Gegenwart gebracht werden sollen. Die paiwanesische Kultur beinhaltet beeindruckende soziale Strukturen. Auch wenn ihr Kastensystem recht veraltet anmutet, gibt es eine Relevanz, die immer im Mittelpunkt steht: Gemeinschaft. So entwickelte das paiwanesische Volk durch eine Art Steuersystem schon früh eine Form des Kommunismus, sodass in ihrer Kultur nicht einmal eine Strafe für Diebe existiert. Diese spezifischen Errungenschaften werden jedoch oft hinter den festlich geschmückten und tanzenden Indigenen als romantische Form einer unterentwickelten Gesellschaft verstanden. Allerdings setzt gerade hier die Inszenierung Go Paiwan an.
Sheng-hsiang Chiang, Al Bernard Velarde Garcia, Shu-Hsuan Kang und Chiu-Ju Wang tragen keine traditionellen Kostüme, sondern Alltagskleidung (Kostüme: Wen-Chung Lin). Diesem Schema folgend verbinden sie die immer wiederkehrende originale Tanztradition mit Elementen aus dem Modern Dance und der Performance-Kunst. Sie tanzen also nicht nur mit ineinander verschränkten Armen in einer Linie, wie es ursprünglich war, sondern streuen immer wieder Passagen ein, in denen sie beeindruckende Hebefiguren in überraschender Leichtigkeit vollführen, oder in denen sich ein Individuum von der Gruppe löst, nur um kurz darauf wieder Teil derselben zu werden. Die Aussage dabei ist ganz klar. Alleine kann es gehen, aber um Großes zu vollbringen, braucht es eine Gemeinschaft. Und diese vollführt ihre Figuren wie eine gut geölte Maschine.
Marketing auf der Bühne?
Diese schnellen Szenen der Gemeinschaft und die Szenen, in welchen Zuschauer*innen auf die Bühne geholt werden, wechseln sich ab mit besinnlichen, fast schon meditativen Momenten, in denen sich die Darsteller*innen auch einmal den Schweiß von der Stirn tupfen können. Doch plötzlich unterbricht ein Mann mit Mikrofon das Spiel und holt nach kurzer Einleitung in Englisch zwanzig Leute aus dem Publikum auf die Bühne. Baru Madiljin bittet sie dabei ihr Handy nicht zu vergessen. Dann stellen sich die Tänzer*innen in der traditionellen Tanzformation gegenüber den zwanzig Zuschauer*innen auf und beginnen den althergebrachten Tanz, ohne hinzugefügte Elemente. Bei diesem schlauen Manöver hat man nun zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Zum einen ist der selbstgesetzte Gründungsauftrag, die paiwanesische Kultur bekannt zu machen, damit erfüllt worden. Zum anderen werden die sich auf der Bühne befindlichen Zuschauer*innen dazu aufgefordert, das Spektakel zu filmen und später über ihre sozialen Medien zu teilen. Was im Prinzip nichts anderes bedeutet als kostenlose Werbung in einem wahrscheinlich sehr kulturorientierten Milieu. Von einer solchen intimen Medienpräsenz können die großen Häuser mit ihren Fotoverboten, welche keinesfalls sinnlos sind, nur träumen.
Was man gemeinsam schafft
Danach fahren die Tänzer*innen fort, das Publikum durch gewagte und teils witzige Posen in ihren Bann zu ziehen. Das Interessanteste, aber nicht unbedingt Auffälligste dabei ist, dass sie nie auf Musik von außen zurückgreifen. Der ganze Klangraum wird nur durch ihre eigenen Stimmen erfüllt. Dabei wird es aber keineswegs langweilig oder die Tongestaltung jemals als zu schwach wahrgenommen. Die Darsteller*innen geben ihre Einsätze mit ihren Atemzügen, welche manchmal scheinbar von einem einzigen großen Ganzen zu kommen scheinen. Sie stampfen mit ihren bloßen Füßen auf den Boden und kreieren so ihren eigenen Takt, aus dem sie aber nie herausfallen. Sie klatschen auch in die Hände. Aber das meistens nur, um das Publikum zu ermutigen, mit ihnen zusammen einen Rhythmus zu schlagen. So gelingt es ihnen, mit den einfachsten Mitteln eine Erfahrung zu erzeugen, in der sich das Publikum nicht außen vor, sondern im Gegenteil völlig hin- und mitgerissen fühlt. Es drängt sich hier unweigerlich die Frage auf, warum wir nicht immer so miteinander umgehen können und warum unsere heutige Gesellschaft so entfernt voneinander lebt.
Bedrohte Demokratie
Doch so wichtig und interessant diese Inszenierung auch sein mag. Warum gerade diese Tanzgruppe ausgewählt wurde, ist kein Zufall. Denn das DANCE Festival setzt ganz bewusst seinen Fokus auf diese Weltregion. Denn obwohl Taiwan eine lebhafte eigenständig Demokratie und einer der größten Microchip-Produzenten weltweit ist, wird es von den meisten Ländern, Deutschland eingeschlossen, nicht als Land anerkannt. Dies ist zurückzuführen auf die chinesische Führung, die Taiwan als ein abtrünniges Gebiet ansieht. Und weil die Volksrepublik China als große Wirtschaftsmacht andere, welche auf die Souveränität der Republik China – also Taiwans – pochen, schnell sanktioniert. Doch Xi hat geschworen, die Insel spätestens im Jahr 2027 einzugliedern, während die USA gemischte Signale, die taiwanesische Verteidigung betreffend, sendet. Die Politik um den pazifischen Inselstaat ist ein heikler Drahtseilakt, der möglicherweise in einem weltweiten Konflikt enden könnte. Daher hat DANCE, um auf diese Thematik aufmerksam zu machen, Tanzgruppen aus der Region eingeladen. Vielleicht auch, weil sie das nächste Mal, gleich den Uiguren, nur noch in einem chinesischem Propaganda-Video zusehen sein könnten.
Alles in allem ist diese Inszenierung also sowohl politisch als auch gesellschaftlich und kulturell höchst interessant – einfach ein einzigartiges Gemeinschaftserlebnis. Doch ich persönlich finde, am besten wird es zusammengefasst in den Worten eines Darstellers, die er während des Einlasses zu mir sagte: „Let’s have some fun. Dance. Together.”
Dieser Text entstand im Rahmen einer Kooperation mit Studierenden des Instituts für Theaterwissenschaft an der LMU unter der Leitung von Anna Beke.
Barfußtanz ist nichts Neues. Vielen kommt hier vielleicht Isadora Duncan in den Sinn. Allerdings war sie keineswegs die Erste, die ohne Schuhe tanzen konnte. Indigene Völker praktizierten ihre rituellen Tänze auch oft barfuß. Und allein dieses Merkmal unterscheidet die Tänzer*innen des Tjimur Dance Theaters von ihren Zuschauer*innen, welche rund um die weiße, quadratische Tanzfläche verteilt auf Stühlen und Kissen sitzen. Denn die Tänzer*innen setzen sich nach der lockeren Begrüßung einfach dazu und lassen so gar nicht erst zu, dass sich eine vierte Wand aufbauen kann. Aus der Stille wächst langsam, aber nicht zaghaft, ein Singsang empor, der stark an Kehlkopfgesang erinnert. Nach und nach steigen alle Performer*innen darin ein.
Sie beginnen sich zu erheben, während sie immer stärker summen und dazu übergehen, verschiedene Laute zu erzeugen. Diese Klangatmosphäre und ihre ruhigen Bewegungen verbreiten in dem eigentlich kahlen großen Raum der Freiheitshalle eine spürbar meditative Stimmung. Da kommt einer der Tänzer auf das Publikum zu, streckt seine Hand aus und bittet somit eine Zuschauerin zum Tanz. Nach kurzem Zögern folgt sie ihm und gemeinsam legen sie sich auf den Boden. Auch ich werde aufgefordert und nach der kurzen Anweisung meine Hand auf Hals und Brust des Führenden zu legen, um seine Vibrationen zu spüren, bewegen wir uns, wie in einem höheren Seelenzustand gemeinsam summend über die Bühne.
Was ist Paiwan?
Die Gesänge sind, laut der Gruppe des Tjimur Dance Theaters, originale Melodien und Lieder des paiwanesischen Volkes. Dieses ist der drittgrößte eingeborene Stamm der Insel Taiwan, dessen Bräuche und Kultur durch solche Performances nicht nur erhalten, sondern auch in die Gegenwart gebracht werden sollen. Die paiwanesische Kultur beinhaltet beeindruckende soziale Strukturen. Auch wenn ihr Kastensystem recht veraltet anmutet, gibt es eine Relevanz, die immer im Mittelpunkt steht: Gemeinschaft. So entwickelte das paiwanesische Volk durch eine Art Steuersystem schon früh eine Form des Kommunismus, sodass in ihrer Kultur nicht einmal eine Strafe für Diebe existiert. Diese spezifischen Errungenschaften werden jedoch oft hinter den festlich geschmückten und tanzenden Indigenen als romantische Form einer unterentwickelten Gesellschaft verstanden. Allerdings setzt gerade hier die Inszenierung Go Paiwan an.
Sheng-hsiang Chiang, Al Bernard Velarde Garcia, Shu-Hsuan Kang und Chiu-Ju Wang tragen keine traditionellen Kostüme, sondern Alltagskleidung (Kostüme: Wen-Chung Lin). Diesem Schema folgend verbinden sie die immer wiederkehrende originale Tanztradition mit Elementen aus dem Modern Dance und der Performance-Kunst. Sie tanzen also nicht nur mit ineinander verschränkten Armen in einer Linie, wie es ursprünglich war, sondern streuen immer wieder Passagen ein, in denen sie beeindruckende Hebefiguren in überraschender Leichtigkeit vollführen, oder in denen sich ein Individuum von der Gruppe löst, nur um kurz darauf wieder Teil derselben zu werden. Die Aussage dabei ist ganz klar. Alleine kann es gehen, aber um Großes zu vollbringen, braucht es eine Gemeinschaft. Und diese vollführt ihre Figuren wie eine gut geölte Maschine.
Marketing auf der Bühne?
Diese schnellen Szenen der Gemeinschaft und die Szenen, in welchen Zuschauer*innen auf die Bühne geholt werden, wechseln sich ab mit besinnlichen, fast schon meditativen Momenten, in denen sich die Darsteller*innen auch einmal den Schweiß von der Stirn tupfen können. Doch plötzlich unterbricht ein Mann mit Mikrofon das Spiel und holt nach kurzer Einleitung in Englisch zwanzig Leute aus dem Publikum auf die Bühne. Baru Madiljin bittet sie dabei ihr Handy nicht zu vergessen. Dann stellen sich die Tänzer*innen in der traditionellen Tanzformation gegenüber den zwanzig Zuschauer*innen auf und beginnen den althergebrachten Tanz, ohne hinzugefügte Elemente. Bei diesem schlauen Manöver hat man nun zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Zum einen ist der selbstgesetzte Gründungsauftrag, die paiwanesische Kultur bekannt zu machen, damit erfüllt worden. Zum anderen werden die sich auf der Bühne befindlichen Zuschauer*innen dazu aufgefordert, das Spektakel zu filmen und später über ihre sozialen Medien zu teilen. Was im Prinzip nichts anderes bedeutet als kostenlose Werbung in einem wahrscheinlich sehr kulturorientierten Milieu. Von einer solchen intimen Medienpräsenz können die großen Häuser mit ihren Fotoverboten, welche keinesfalls sinnlos sind, nur träumen.
Was man gemeinsam schafft
Danach fahren die Tänzer*innen fort, das Publikum durch gewagte und teils witzige Posen in ihren Bann zu ziehen. Das Interessanteste, aber nicht unbedingt Auffälligste dabei ist, dass sie nie auf Musik von außen zurückgreifen. Der ganze Klangraum wird nur durch ihre eigenen Stimmen erfüllt. Dabei wird es aber keineswegs langweilig oder die Tongestaltung jemals als zu schwach wahrgenommen. Die Darsteller*innen geben ihre Einsätze mit ihren Atemzügen, welche manchmal scheinbar von einem einzigen großen Ganzen zu kommen scheinen. Sie stampfen mit ihren bloßen Füßen auf den Boden und kreieren so ihren eigenen Takt, aus dem sie aber nie herausfallen. Sie klatschen auch in die Hände. Aber das meistens nur, um das Publikum zu ermutigen, mit ihnen zusammen einen Rhythmus zu schlagen. So gelingt es ihnen, mit den einfachsten Mitteln eine Erfahrung zu erzeugen, in der sich das Publikum nicht außen vor, sondern im Gegenteil völlig hin- und mitgerissen fühlt. Es drängt sich hier unweigerlich die Frage auf, warum wir nicht immer so miteinander umgehen können und warum unsere heutige Gesellschaft so entfernt voneinander lebt.
Bedrohte Demokratie
Doch so wichtig und interessant diese Inszenierung auch sein mag. Warum gerade diese Tanzgruppe ausgewählt wurde, ist kein Zufall. Denn das DANCE Festival setzt ganz bewusst seinen Fokus auf diese Weltregion. Denn obwohl Taiwan eine lebhafte eigenständig Demokratie und einer der größten Microchip-Produzenten weltweit ist, wird es von den meisten Ländern, Deutschland eingeschlossen, nicht als Land anerkannt. Dies ist zurückzuführen auf die chinesische Führung, die Taiwan als ein abtrünniges Gebiet ansieht. Und weil die Volksrepublik China als große Wirtschaftsmacht andere, welche auf die Souveränität der Republik China – also Taiwans – pochen, schnell sanktioniert. Doch Xi hat geschworen, die Insel spätestens im Jahr 2027 einzugliedern, während die USA gemischte Signale, die taiwanesische Verteidigung betreffend, sendet. Die Politik um den pazifischen Inselstaat ist ein heikler Drahtseilakt, der möglicherweise in einem weltweiten Konflikt enden könnte. Daher hat DANCE, um auf diese Thematik aufmerksam zu machen, Tanzgruppen aus der Region eingeladen. Vielleicht auch, weil sie das nächste Mal, gleich den Uiguren, nur noch in einem chinesischem Propaganda-Video zusehen sein könnten.
Alles in allem ist diese Inszenierung also sowohl politisch als auch gesellschaftlich und kulturell höchst interessant – einfach ein einzigartiges Gemeinschaftserlebnis. Doch ich persönlich finde, am besten wird es zusammengefasst in den Worten eines Darstellers, die er während des Einlasses zu mir sagte: „Let’s have some fun. Dance. Together.”
Dieser Text entstand im Rahmen einer Kooperation mit Studierenden des Instituts für Theaterwissenschaft an der LMU unter der Leitung von Anna Beke.
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