„Rabbit Hole“ von Moritz Ostruschnjak
„Rabbit Hole“ von Moritz Ostruschnjak

Ein virtuelles Wunderland

„Rabbit Hole“ von Moritz Ostruschnjak in der Muffathalle München

Nach der digitalen letzten Ausgabe aufgrund der Pandemie kehrt das Festival DANCE nun zur Präsenz zurück. Moritz Ostruschnjak aber macht die Digitalität zum Thema eines dystopischen Märchens.

Von Simon Rolke

Was ist noch Wirklichkeit? Diese Frage scheint „Rabbit Hole“, das neueste Stück des gebürtigen Marburgers Moritz Ostruschnjak, zu stellen. Durch ein Labyrinth von Verbindungen, virtuell und real, digital und analog, werden die Zuschauer immer tiefer in eine verwirrende, düstere Welt gezogen. Die Werke russischer Science-Fiction und Lewis Carrolls Klassiker „Alice im Wunderland“ stellen dabei die eine Hälfte des Fundaments dar, die andere Hälfte gehört dem zunehmenden Eindringen fantastischer Welten in die Wirklichkeit. Diese Welten können den Weiten des Internets ebenso entstammen wie den Köpfen gefährlicher Nostalgiker, die den Glanz vergangener Zeiten zu neuem Leben erwecken wollen. All das verbindet sich in „Rabbit Hole“ zu einer geschickt komponierten Realitätsflucht.

Die sechs Tänzer*innen – Miyuki Shimizu, Magdalena Agata Wójcik, Guido Badalamenti, David Cahier, Daniel Conant und Roberto Provenzano – betreten die Bühne mit grellen Leuchtstofflampen in den Händen, die im Dunkel des Bühnenraums an die Lichtschwerter aus „Star Wars“ denken lassen. Damit legen sie bereits die Atmosphäre und die Themen fest, durch die sie das Publikum in der nächsten Stunde führen werden.

Fantastische Elemente, Gewalt und ein düsterer Futurismus werden das Stück bestimmen. Zum Auftritt der vermeintlichen Jedi erklingen kraftvolle Bläser, die an den Sonnenaufgang aus Richard Strauss’ „Also sprach Zarathustra“ denken lassen – und damit an einen weiteren Klassiker der Science-Fiction, Kubricks „2001: A Space Odyssey“. Doch nur zwei Tänzer bleiben im Licht. Der Rest verschwindet in der Dunkelheit. Die beiden Sichtbaren kreisen in der Mitte der Bühne umeinander, mal stehend, mal auf Knien, während auf der Leinwand im Hintergrund zwei Punkte ebenso umeinander kreisen. Bald tritt ein weiterer Tänzer auf und umkreist die beiden rückwärts laufend. Dieselbe Bewegung wird sich während des Stücks noch zahllose Male wiederholen. Die Zukunft scheint gekommen, doch trotzdem laufen die Figuren rückwärts. Manchmal fallen sie, bleiben eine Weile liegen, am Ende stehen sie immer wieder auf.

Eine düstere Welt

Der klangvolle Auftakt kann nicht lange verbergen, dass die Welt hinter dem Kaninchenbau eine düstere ist, und so huldigt die Musik bald weniger dem Sonnenaufgang als den Nachstellungen des „Weißen Hais“, an den sie zwischenzeitlich erinnert. Überhaupt ist die musikalische Untermalung von „Rabbit Hole“, geschaffen vom Münchner Musiker und DJ Jonas Friedlich, ein emotionales Feuerwerk. Geschickt wird mit Assoziationen und Bezügen gespielt. Bald erklingt Gustav Holsts „Mars“ (und erinnert so erneut an Star Wars), nur kurze Zeit später eine schaurige Version von Johann Strauss‘ „An der schönen blauen Donau“ (auch hier ein Verweis auf „2001“), verzerrt und von synthetischen Klängen zunehmend unkenntlich gemacht. Kurze Themen mischen sich manchmal dazwischen, der zarte Klang einer Spieluhr etwa.

Ein weiterer zentraler Aspekt der Aufführung ist die Verwendung der Leinwand für Filmprojektionen. Auf dieser wird nun ein Wolf ins Visier genommen. Inmitten der Bilder, die sonst wie eine Naturdokumentation wirken könnten, schwebt ein kleiner roter Punkt, der nichts Gutes erahnen lässt. Immer wieder nähert er sich den Wölfen im Rudel, verharrt auf ihnen. Jede Sekunde bangt der Zuschauer, bis zuletzt mit einem dumpfen Knall der Wolf zusammenbricht. Zwischen den einzelnen Sequenzen der Jagd erscheinen für kurze Augenblicke die Kanonenrohre von Panzern im Bild.

Noch ehe der Wolf den letzten Atemzug getan hat, erklingen bereits wieder die fröhlichen Töne von Queens „It’s a Kind of Magic“, und bald darauf setzt wie zu erwarten die samtige Stimme Freddy Mercurys ein. Die Tänzer*innen tanzen hier das erste Mal alle synchron, mit weiten vertikalen Gesten, und wenn Mercury verstummt ist, werden sie noch einen Moment in der Stille weitertanzen. Auch auf der Leinwand ist an den toten Wolf schon nicht mehr zu denken, stattdessen erscheinen dort nach und nach verschiedene okkulte und alchemistische Texte, von denen jeder wohl ‚a kind of magic‘ ist. Für die geniale visuelle Untermalung, die selbst fast ein Akteur des Stücks ist, zeichnet der in Berlin geborene Videokünstler und Filmemacher Mikko Gaestel verantwortlich.

Zweidimensionale Objekte

Gaestel und Ostruschnjak haben auch gemeinsam das Bühnenbild entwickelt. Neben den Leuchtstäben dienen sechs Objekte als zentrale Requisiten, die von den Tänzer*innen umkreist, umhergetragen, als Versteck verwendet werden. Alle sind sie ungewöhnlich, aus der Wirklichkeit gefallen. Alle sind zweidimensional. Eines sieht aus wie ein Kopf, dessen Gesicht nicht mehr als ein schwarzes Oval ist, aus dessen Mitte ein einzelnes weißes Auge heraus starrt und weiße Tränen weint. Ein anderes erinnert an eine Erdkugel, aus der an einem der Pole ein großes Stück herausgeschraubt wurde. Zurück bleibt ein sauberes Gewinde und ein tiefer Krater in der mechanischen Welt. Das realistischste ‚Objekt‘ ist ein Reh, das in den Scheinwerfern eines Fahrzeugs erstarrt zu sein scheint. In seinen Augen spiegelt sich das Licht. Zwei weitere sind schwer zu identifizieren. Eines hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Sandwurm aus dem Scifi-Klassiker „Dune“, das andere wirkt wie ein rudimentärer Roboter oder ein Stück Schrott.

Das letzte Objekt, ein gewaltiger Mühlstein, wird nun mit sichtlicher Mühe von einem der Tänzer über die Bühne gewälzt. Auf der Leinwand ein Ausschnitt aus Dürers berühmtem Kupferstich „Melencolia I“. Eine Stimme singt oder rezitiert, abschließend lässt sich das nicht sagen, „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“, wobei nach und nach Wörter vertauscht werden und der Sinn des Textes entstellt.
Darin liegt vielleicht eine menschliche Wahrheit, egal ob in der analogen oder der digitalen Welt: Alles wiederholt sich, manchmal in anderer Anordnung, aber doch ohne echte Innovation. Jede und jeder sieht nur einen kleinen Ausschnitt, sonst würden sie vielleicht, wie der Engel in „Melencolia I“, ohne Hoffnung in das strahlende Licht der Zukunft blicken. Obwohl die Bühne eben ist, erscheint der Mühlstein hier wie der Felsen des Sisyphos.

Menschliche Wahrheit

Der Trost, den Publikum und Tänzer*innen nun brauchen, bleibt freilich nicht aus. Im nächsten Moment schon verschmelzen zwei Figuren im Dunkel der Bühne und halten einander fest. Wann immer eine umzufallen droht, hält sie die andere. Auch das kann menschliche Wahrheit sein.

Bald darauf setzt ein sehr dissonanter Harfenklang ein und auf der Bühne versucht ein Tänzer, nicht vorhandene Dinge von Boden aufzuheben. Erwartungsgemäß scheitert dieses Unterfangen. Die Bewegungen wandeln sich, sie werden fließender und bereiten die musikalische Ankunft der schaurigen blauen Donau vor, die dann auch nicht lange auf sich warten lässt. Nun kommen auch die restlichen Tänzer*innen auf die Bühne zurück. Die Szenerie wird hier sehr dynamisch, niemand verharrt auf der Stelle, alle sind in Bewegung.

Aus den Lautsprechern dröhnt nun ein durchdringendes Basswummern. In der Mitte der Bühne wird eine Tänzerin zum Medium der Basswellen, die ihren Körper scheinbar gegen ihren Willen formen. Im Kontrast zum augenscheinlich natürlichen Fluss der Wellen, wirken die Bewegungen des folgenden Tänzerpaars denkbar künstlich. Eckig und abgehackt, wie zwei Maschinen, sind die beiden in einen bizarren Kampf miteinander verwickelt, schlagen einander zu Boden und stehen wieder auf. Erst als einer liegenbleibt, kommt der andere zur Besinnung und leitet erfolgreich Wiederbelebungsmaßnahmen ein.

Der Mensch ist verletztlich

Der Tod lässt sich jedoch nicht fernhalten. Die Bässe weichen einem Maschinengewehrfeuer aus den Lautsprechern, während die Tänzer*innen um die nun in der Bühnenmitte verteilten Requisiten schleichen wie durch ein Kriegsgebiet – mal geduckt, mal mit ausgestreckten Armen im Anschlag, mal stürzen sie getroffen zu Boden, fallen hinter ein Requisit, nur um auf der anderen Seite erneut als Kämpfer*in herauszutreten. Wie als Erinnerung, dass Menschen aus Fleisch und Blut und sehr verletzlich sind, gleitet das Video auf der Leinwand durch menschliche Eingeweide, durch Tunnel und Gänge wie durch den namensgebenden Kaninchenbau.

Es folgen noch ein Videospiel auf der Leinwand mit einem Lied, das nicht ganz zu passen scheint, dafür aber in einen stimmigen Retro-8Bit-Musikstil übertragen wurde, und ein Flötenstück, das irgendwie nach Bach klingt, ehe es in elektrische Musik abgleitet, und zu dem ein Drache auf den Reichsapfel blutet. Dazu stehen vier der Leuchtstäbe auf der Bühne und spannen ein Quadrat in der Mitte auf, in dem eine Tänzerin ein eindrucksvolles Solo mit zahlreichen Breaking-Elementen absolviert. Ostruschnjak, der selbst aus der Sprayer- und Breaking-Szene stammt, erzeugt in der Verbindung von Bewegung und Licht hier eine effektvolle Bildkomposition, die das Publikum leicht in ihren Bann schlägt.

Als nächstes wummert eine tiefe, basslastige Musik über die Bühne, zu der zunächst ein Solist, dann nach und nach alle Tänzer*innen mit verschiedenen Körperteilen zittern. Wer schon einmal versucht hat bewusst zu zittern, weiß, welche Anstrengung es für die Tänzer*innen darstellen muss. Passend zum Zittern erfüllt ein hochfrequentes Flackern der weißen Leinwand den Raum.

Als letze Episode vor dem Finale erklingt Sergej Prokofievs Musik zu „Peter und der Wolf“. Über die Leinwand zucken archaische Flammen, während die Tänzer*innen im Dunkel der Bühne wie ein Stamm von Frühmenschen bei einem gemeinsamen Ritual anmuten.

Mitklatschen hilft nicht

Danach stellen sich die Tänzer*innen in einer Reihe vor dem Publikum auf und tanzen auf Diskomusik die Moves, die im Text angesagt werden. Das Publikum folgt bereitwillig der Einladung, mitzuklatschen und durchbricht damit das andächtige Schweigen, das bis dahin im Raum geherrscht hat. Nach den vielen dunklen Episoden der Choreografie kehrt hier eine profane Hoffnung zurück, dass es doch noch weitergehen kann.
Aber alles ist irgendwann vorbei. Zum Zeichen des nahenden Endes bricht wie Donner ein gewaltiger Orgelakkord herein, die Bühne wird dunkel und die Tänzer*innen verlassen, Leuchtstäbe schwenkend und umgeben von einem beinahe sakralen Nimbus das Feld geschlagener Schlachten. Die Musik ermahnt das Publikum: „Sei still!“ Schweigen kehrt ein, und das Märchen, das Moritz Ostruschnjak und Dramaturgin Carmen Kovacs zu erzählen hatten, ist vorbei – und mit ihm ein rundum gelungener Tanzabend.

Dieser Text entstand im Rahmen einer Kooperation mit Studierenden des Instituts für Theaterwissenschaft an der LMU unter der Leitung von Anna Beke.

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