Von der Haarwurzel bis zum Zeh
Die italienische Choreografin Sofia Nappi begeistert mit ihrer Compania Komoco bei den Regensburger Tanztagen
Eine Seniorenresidenz? Mit Bewegungsangeboten und Freiraum für Picknick von halbwegs rüstigen Alten? Auch wenn es provokativ, gar boshaft klingt, der eine oder die andere Zuschauer*in hatte vielleicht ähnliche Assoziationen, als sich die ersten ‚Tattergreise‘ auf die in Nebel getauchte Bühne zitterten. Weißhaarig, mit Gehstock und Gesichtern voller Runzeln hinkten, tänzelten und schlenkerten die fünf Mitglieder der Compania Komoco ins trübe Licht der Scheinwerfer am Theater an der Uni.
„Ima“, nach dem japanischen Begriff für den gegenwärtigen Moment, hat Choreografin Sofia Nappi ihr während der Zeit pandemischer Einschränkungen entstandenes Tanzstück genannt. Darin verbindet sie verschiedene Zeitebenen und Bedeutungen und verknüpft diese mit emotionalen Transfers. Wobei die leicht grotesk wirkenden maskierten Greise und Greisinnen, die Kinderinstrumente aus einem beleuchteten Schrankkoffer ziehen, sowohl Zukunft – Vergänglichkeit – wie Vergangenheit bilden können. Sie schwelgen in Erinnerungen.
Diese ziehen sie in Form von Kinderinstrumenten aus einem beleuchteten Schrankkoffer und tanzen damit voll kindlicher Freude. Mit Schlagermelodien im Walzertakt, Tango und einem französischen Chanson nimmt die Choreografin auch musikalisch Bezug auf eine Vergangenheit, die ihre Korrespondenzen durchaus auch in der Gegenwart hat. Der Übergang kündete sich mit zugänglichen elektronischen Klängen an. Nach und nach fallen die Masken, und es kommen jugendliche Frische, forschere Dynamik und lebhafte Beweglichkeit zum Vorschein. Erst aber müssen die Tanzenden die ungelenke nostalgische Verstaubtheit, die sich auch wenig originell in den Kostümen zeigt, abstreifen. Sie schütteln und rütteln alle Knochen durch. Es wirkt, als würden sie sich aus einer steifen Verpupptheit winden, um sich befreit und voller Lebenslust in neue Abenteuer zu tanzen.
Wobei das scheinbar Ungelenke, die hölzerne Schlappheit und Tapsigkeit der Alten den Tanzenden vermutlich mehr abverlangen, als die flüssige Beweglichkeit und wirbelnde Schnelligkeit der Gegenwart als junge Tanzende. Über den Schrankkoffer aber bleiben auch die Spuren des Alter(n)s gegenwärtig. Immer wieder gruppieren sich Mitglieder um das Requisit, verharren in Ruhe und Nachdenklichkeit oder in zeitlupenartigen Bewegungen. Gleichzeitig rangeln und kämpfen zwei Tänzer*innen in hinreißender Geschmeidigkeit und kraftvoller Zugewandtheit einen atemberaubenden Pas de deux.
Die Parallelität zweier gegensätzlicher Bewegungen gehört zu den ins Auge fallenden Bedeutungssträngen fantastischer Choreografie. Langsamkeit und Schnelligkeit, Alter und Jungsein, stürmische Lebenslust und ruhige Gelassenheit, alles existiert nebeneinander und passiert gleichzeitig. Hier kommt das fundamentale philosophische Prinzip des japanisch konnotierten Titels voll zum Tragen. Sofia Nappi nimmt die mit Veränderungen und Ungewissheiten verbundenen Ängste ernst und gibt ihnen tänzerisch Raum. Dabei bleibt immer deutlich, dass die Körper im Gegenwärtigen verankert sind, während die Menschen im Kopf nahezu dauernd zwischen Vergangenheit und Zukunft hin und her springen. Ihre Inspirationen scheinen dabei bis zu den Filmen der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts mit entfesselten Tanzszenen, zu Josephine Baker und zu den seltsamen Gangarten der Monty Python Gruppe zurückzureichen.
Die fünf Tänzer*innen (Lara di Nallo, Valentin Durand, Evelien Jansen, Paolo Piancastelli, Gonçalo Reis) bewältigen diese herausfordernde Choreografie mit schwindelerregender Perfektion und Leidenschaft. Mit einem Körpereinsatz, der sprichwörtlich von den Haarwurzeln bis in den kleinen Zeh reicht, erzählen sie Geschichten vom Leben, den Verformungen und dem steten Wandel. Sie agieren perfekt als Gruppe in synchronen ausgreifenden Tanzbewegungen und Stopps. Leicht und fließend interagieren sie untereinander, lassen die verschiedenen Musiken, mal mit würzigem Groove, mal mit barocker Noblesse zu einem Countertenor durch sich hindurchfließen und geben ihnen künstlerisch Gestalt. Ein fantastischer Abend, auch was die passenden Kostüme (Luigi Formicola) und das gestaltende Licht (Alessandro Caso) angeht.
Sofia Nappi:
Die junge italienische Choreografin hat das bedeutende Alvin Ailey American Dance Theatre in New York absolviert. Bereits ihre ersten Kreationen mit der Kompanie Komoco wurden mit Auszeichnungen überhäuft. „Ima" ist eine Auftragsarbeit für Biennale Venedig 2020. Als freie Choreografin arbeitet Sofia Nappi heute weltweit mit verschiedenen Tanzkompanien.
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