Urplötzlich sind wir mittendrin in einer geopolitischen Zeitenwende. Ein Übergang? Dann haben es Übergänge in sich, was auch für den neuen dreiteiligen Tanzabend „Passagen“ gelten mag, mit dem das Bayerische Staatsballett endlich wieder eine Ballettfestwoche eröffnet. Die vergangenen zwei Jahre mussten wir darauf pandemiebedingt verzichten.
Ob man nun das von Alexei Ratmansky für das New York City Ballet entstandene Stück „Bilder einer Ausstellung“ zu Modest Mussorgskis Klavierzyklus anders wahrnimmt, wird anlässlich der Deutschlandpremiere im Nationaltheater hinterfragt. Dazu inspiriert wurde Ratmansky von Gemälden von Wassily Kandinskys – insbesondere von dessen im Münchner Lenbachhaus ausgestellter Farbstudie „Quadrate und konzentrische Ringe“.
Zehn Protagonist*innen sind es nur, die der Choreograf hier auf eine leichtfüßig-verspielte Promenade schickt. Ein kurioser Weltenbummel, der im „Großen Tor von Kiew“ gipfelt. Obwohl der 30-Minüter auf klassischer Balletttechnik basiert, werden die Tänzer*innen durch quirlige Sprünge, schnelle Drehungen, schwierige Hebungen, neuartige Schrittkombinationen, zeitgenössische Port de bras sowie hier und da kleine Twists aus ihrer Komfortzone gestoßen. In zehn eigenwilligen Geschichten mit märchenhaften Charakteren wie einem zornigen Gnom oder der Hexe Baba Jaga können sie sich zudem herrlich persönlichkeitsstark ausleben. Stets im Einklang mit der Musik, die ihnen den Rhythmus, die Melodie und Stimmung der jeweiligen Szene vorgibt.
Zu Putins kriegerischem Affront hat der künstlerisch lange schon in Amerika verankerte Ratmansky – ein gebürtiger St. Petersburger mit Familie in der Ukraine, wo er einst im Nationalballett als Solist tanzte – klar Stellung bezogen. Zu den Endproben reiste er erst spät an. Aufgrund einer Erkrankung im Ensemble übernimmt sein für die Einstudierung verantwortlicher Ballettmeister Amar Ramasar kurzfristig eine der Partien. Auch Marco Goecke und David Dawson, die zum ersten Mal mit dem Bayerischen Staatsballett arbeiten, mussten aufgrund von Quarantäne Leerphasen umschiffen. Dabei ist nichts schlimmer als im Kreationsprozess einer Uraufführung zu Untätigkeit verdammt zu sein.
„Man muss jeden Tag nehmen, wie er ist“, kontert Dawson. „Wir sind gewohnt, dass alles im Vorfeld geplant und vorbereitet wird. Nun passiert alles im Augenblick. Man muss wieder lernen, im Hier und Jetzt zu leben, was eine wunderbare Sache ist.“ Probenbeginn für den Londoner und seine 13 Interpret*innen war Anfang Januar. „Da verlor ich eine Woche durch Corona. Dann musste ich zum Niederländischen Nationalballett.“ Dort ist Dawson, dessen Arbeiten in aller Welt gefragt sind, Hauschoreograf.
Ähnlich wie Ratmansky baut auch er seine Choreografien aus der Musik heraus auf. „Sie ist mein Ausgangspunkt. Dass ich vor drei Jahren auf das Konzert für Violine und Streichorchester „Affairs of the Heart“ des kanadischen Komponisten Marjan Mozetich stieß, war für mich wie ein Schatzfund. Es dauert rund 25 Minuten und hat einfach alles. Auch wenn die drei Sätze pausenlos ineinander übergehen, schwingt in dieser Konzertpartitur etwas Traditionelles, vergangen Großes mit. Zugleich ist die Musik zeitgenössisch und in die Zukunft weisend. Sie beinhaltet Ruhe, Modernität, Einfachheit und Emotionalität.“
Den Titel des Musikstücks hat Dawson übernommen. „Er gab mir die Idee, eine Art Reise des Lebens zu gestalten, anhand der im Herzen gebunkerten Energien, Farben und Erinnerungen bzw. Erfahrungen, die man gemacht hat. Das können viele Dinge sein: Stille, Furcht, Aufregung – was immer das ist –, Sehnsucht oder Leidenschaft. Ganz abhängig davon, wie der Zuschauer die Musik liest. Für mich gleicht sie dem unbändigen Rauschen des Wassers.“
Das Publikum, so Dawson, soll die Liebe spüren, und die Schönheit und das Positive, das die Tänzer*innen auf die Bühne bringen, mit ihnen teilen. „Leben, Liebe, Tod sind die mir wichtigen Themen, oder wie ich gerade fühle. Den Tänzer*innen zeige ich dazu genau die Form und gebe ihnen die Dynamik vor, die später der Melodiefluss meiner jeweils mit Bedeutung aufgeladenen Bewegungen haben soll. Die Suche nach Liebe ist ein Sieg. Das Licht triumphiert über die Dunkelheit. Dieser Aspekt in meiner schon für 2020 geplanten Arbeit ist jetzt noch gewichtiger geworden.“
Marco Goecke, Hauschoreograf unter anderem des Nederlands Dans Theaters, seit 2019 Leiter des Staatsballetts Hannover und beim benachbarten Gärtnerplatzballett verantwortlich für den abendfüllenden Dauerbrenner „La Strada“, kam Mitte Februar nach München. Das Ensemble wurde auf Goeckes sehr speziell detailreiche Bewegungssprache bereits seit Dezember von dessen Ballettmeister Ludovico Pace eingeschworen. Den schönen Schein, der uns ablenkt, spricht der Choreograf seinem Stück „Sweet Bones‘ Melody“ von vorneherein ab. Getanzt wird auf ein musikalisches Ungetüm: das eigens für die Premiere neu eingerichtete Orchesterwerk „Mannequin“ der südkoreanischen Komponistin Unsuk Chin.
„Meine Art zu choreografieren ist dem Ballett mehr verbunden, als manche vermuten. Man muss nur genau hingucken. Es ist auch kein Modern Dance, der sich am Boden herumrollt. Aber das Vokabular ist zersägt. Das hat mit Picasso zu tun, für mich als Kind mein Idol. Sein Zerlegen – und dass es im Großen und Ganzen auch wieder eine Ordnung darin gibt – fasziniert mich bis heute.“
Im Ballettsaal durchgestartet ist der Wuppertaler ohne vorgefertigtes Konzept. Er lässt sich ein auf das Nichts. Versucht instinktiv, jeden seiner 12 Tänzer*innen zu erforschen. „Ich brauche Probleme – um kreativ zu sein und Lösungen zu finden. Und ich will etwas fühlen. Mich treibt das so lange an, bis die Tänzer – und das überrascht mich immer auf Neue – irgendwie meine Dringlichkeit übernehmen und mir auch etwas Persönliches von sich geben. Der Grund, warum ich seit über 20 Jahren choreografiere, ist, dass ich gern mit Menschen zusammen bin, Zuneigung suche und jemanden, der mich in meiner Traurigkeit versteht.“
Nach einer Probe, in der sie viel lachten, habe er sich „frei gefühlt wie ein kleiner Junge, der Spaß haben und einfach spielen will“. Dieses großartige (Glücks-)Spiel von Geben und Nehmen, das ist ihm wichtig bei der „knochenharten Angelegenheit“ seines Berufs, der erfordert, „ausgehend von einem Körper etwas in einen Raum zu bringen, der nichts bietet außer drei schwarzen Wänden“. „Danach kam das einwöchige Quarantäne-Aus.“ Zoom bietet da keine Alternative. „Ich muss die Tänzer immer ganz nah bei mir haben. Ich gehe auch nie in den Zuschauerraum, um mir das Stück von dort anzusehen. Sobald ich mich entferne, verliere ich den Kontakt dazu.“
Darauf, was sich letztendlich inhaltlich alles im Stück widerspiegelt, ist Goecke selbst gespannt. Sicher wird sich einiges davon niederschlagen, was momentan so in der Luft liegt. Erzählen seine Arbeiten doch oft von Verrohung, Verlust oder Gewalt. „Man ist ja immer wieder fassungslos, was der Mensch dem Menschen antut. Früher habe ich mehr witzige Momente eingebaut – das hat sich ein bisschen verloren. Aber es steckt stets auch Hoffnung und Versöhnung drin.“
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