„10:10“ von NYASH
„10:10“ von NYASH

Schön spielerisch

„10:10“ von NYASH und Ceren Orans „Schön Anders“ beschließen das Think Big Festival in München

Elf Tage bot Think Big, internationales Tanz-, Musiktheater- und Performance-Festival, ein breites Spektrum an Produktionen für junges Publikum. Mit „10:10“ und „Schön Anders“ wurden zum Abschluss zwei energiegeladene Produktionen voller Tanzfreude gezeigt.

München, 07/07/2021

Der Bühnenraum ist schwach erleuchtet. Schemenhaft ist ein Mann zu erkennen, der die Bühne zu fegen beginnt. Der Boden ist mit einem weißen Stoff ausgelegt. Eine durchgezogene Sandspur am Rand formt die Spielfläche in der Mitte. Der Mann setzt sich an das Schlagzeug und beginnt ausgehend von zunächst willkürlich wildem Trommeln ein rhythmisches Pattern zu schlagen. Von den Lautsprechern sind begleitend Trompetenklänge zu hören, die ein wenig wie die Phase des Einspielens vor einem Konzert anmutet. Während sich der Schlagzeuger und die Instrumente im Off immer mehr in Ekstase spielen und der Raum langsam erhellt wird, treten auf den Seiten die drei Performer*innen auf. Sie belauern sich, scheinen auf einen Startschuss zu warten und finden schließlich in einem ausgelassenen Spiel aus Entdecken, Experimentieren und Bewegungsfreiheit zusammen.

Das Projekt „10:10“ der 2006 gegründeten belgischen Kompanie NYASH unter der Leitung von Caroline Cornélis macht aus dem Bühnenraum einen Pausenhof. Situationshaft und mit fließenden Übergängen deuten die Performer*innen Momente von Wettläufen, Raufereien, Mutproben und anderen Spielereien an. Mit Leichtigkeit changieren sie dabei zwischen kindlicher Albernheit und spielerischem Ernst oder gar Bedrohung. Sie bewegen sich stets im Verhältnis zu den anderen, Momente von Ausgrenzung und Gruppenzugehörigkeit werden ebenso angerissen wie das Begehren nach körperlichem Kontakt und zärtlicher Zuneigung.

Die drei Tänzer*innen sind dabei nie explizit. Die Situationen verschwinden so schnell wieder, wie sie aufgetaucht sind und räumen den Platz für neue Assoziationsspielräume. Diese Subtilität und die klischeebefreite Darstellung ermöglichen, dass jede*r die angebotenen Bilder mit dem eigenen individuellen Erfahrungsschatz füllen kann.

Auch versuchen die Performer*innen keine Kinder darzustellen. Vielmehr gelingt es ihnen, den spielerischen Charakter in ihren erwachsenen und teils schon etwas gealterten Körpern wiederzubeleben und somit den Pausenhof in eine Metapher für einen Ort zur freien Entfaltung von Spiel, Bewegung und Entdeckung umzukodieren.

Als noch abstrakter, deshalb aber nicht weniger energie- und gedankenanregend offenbart sich „Schön Anders“. Die Produktion der Münchner Choreografin Ceren Oran feierte bereits im Februar 2020 Uraufführung und wurde jetzt für das Think Big Festival nach anderthalb Jahren, wie Oran im Publikumsgespräch mit einer Schulklasse berichtet, wiederaufgenommen. Das Ensemble mit Tänzer*innen aus Israel, Serbien, Spanien, Südkorea und der Türkei und dem Live-Musiker Benny Omerzell verhandelt in tänzerischer Form – auch weil die unterschiedlichen Herkünfte nach einer außersprachlichen Kommunikationsebene verlangen – Phänomene wie Gruppendynamiken, Zugehörigkeitsgefühl und Individualität.

Die fünf Tänzer*innen – einheitlich in grau gekleidet, aber doch in unterschiedlichen Silhouetten – kreieren in verschiedenen Szenen Situationen, in denen sie zunächst in gruppenbezogenes Vormachen und Nachahmen vollziehen. Das kann das Vormachen eines bestimmten Bewegungsmusters oder auch die Frage sein, wie die weißen Sonnenbrillen, die alle nach und nach zum Vorschein bringen, aufgesetzt werden sollen. Immer wieder brechen einzelne Individuen aus der Gruppenbewegung aus, immer wieder werden einzelne Individuen aus den Gruppenaktivitäten ausgegrenzt – z. B. wenn sich die Tänzer*innen in einer hochkomischen Szene um den Platz auf einem einzigen Stuhl streiten. Diese Individualisierungsprozesse münden aber nicht in Resignation oder Traurigkeit, sondern bieten den Raum, das Schöne in der eigenen Einzigartigkeit zu sehen. Das ist ganz besonders am Ende der Produktion zu sehen, in der die einzelnen Abschnitte gleich einem Medley noch einmal kurz angerissen werden, dieses Mal mit einer unbeschwerten Aufwertung, in der sich alle fünf Performer*innen über ihre gewonnene Individualität freuen, wodurch genau deshalb aber ein letztlich stabileres Gruppengefüge ohne Ausgrenzungsmomente erzeugt wird.

Begleitet wird „Schön Anders“ von Benny Omerzells Live-Musik. Das Set aus zwei Pianos und Loop-Station untermalt mit mal sphärischen, mal hochrhythmischen Klängen, die ein wenig an die Minimal Music-Kompositionen von Ludovico Einaudi erinnern, den Tanz mit einer emotionalen und energetischen Tiefe. Auch „10:10“ erhält durch die Live-Musik des Schlagzeugers Tom Malmendier eine unmittelbarere Note. Allerdings geht diese insbesondere zu Beginn des Stückes durch die gleichzeitigen Elektroklänge vom Band manchmal unter.

Beide Produktionen bestechen nicht zuletzt durch ihre prägnanten Schlüsse. In „10:10“ betteln die drei Performer*innen in kindlicher Manier Malmendier an, doch noch weiterzuspielen. Was folgt ist eine fünf Sekunden dauernde Reprise einer Kurzchoreografie, die sie sich zuvor auf dem „Pausenhof“ beigebracht haben. Nach einem energiegeladenen letzten Ruf und Stampfer folgt der Black. Und auch „Schön Anders“ endet mit einem kurzen, aber doch wirkungsvollen letzten Bild, in dem sich Benny Omerzell von seinen Instrumenten entfernt und in die neugewonnene Einheit der Performer*innen integriert. Und Black.

 

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