Eine Straße im Irgendwo, zu schräg, um wahr zu sein. Links und rechts verschwindet sie im Himmel. Im Hintergrund, schemenhaft, ein Haufen alter Autoreifen. Und noch weiter hinten, am äußersten Rand, wenn man so will, angedeutet in Schwarz-weiß, dichter Wald. Kein Ort, nirgends. Und gleich zu Anfang geschieht ein Unfall. Eine Tänzerin gerät auf dieser Straße unter die Räder. Tot. Also wird sie kurzerhand in einen Müllsack gestopft und am Fahrbahnrad entsorgt. Oder war das in dem Sack am Ende gar kein Mensch, sondern ein wildes Tier?
Wim Vandekeybus wagt sich in seinem Stück „Traces“ von 2019 tief, sehr tief in die dunklen Schatten der rumänischen Wälder. Schlussendlich steht dieser Raum aber ganz allgemein für das dem Menschen Unbekannte, das Wilde, Ungezähmte der Natur. Also auch das der menschlichen Natur. Ein konsequenter Griff, mit dem sich der belgische Choreograf nach Lust und Laune wie gewohnt nach Außen stülpen kann. Die anfängliche Leere dieses Raumes, das Unbehagliche der Atmosphäre wirkt wie eine Verbeugung vor David Lynch. Das ist gewaltiges Kino im Wortsinn. Es dauert eine Weile, bis die neun Tänzerinnen und Tänzer endlich aufeinander zustürmen und das Brachialsystem, das den Bewegungs-Kosmos Vandekeybus‘ so erfolgreich gemacht hat, in Gang setzen. Die bekannt komplexe Koordination des actionreichen Durcheinanders zeigt dann auch schnell, warum das Publikum kommt, wenn Vandekeybus auf dem Zettel steht. Die kraftvolle, energiegeladene Gemeinschaft der wirbelnden, fliegenden Körper, die immer wieder objektiviert, benutzt statt genutzt werden, ist stark. So weit, so vertraut.
Die Frage nach dem Menschen, dem Menschlichen als vermeintlicher Spitze des Animalischen, stellt sich hier bis zum Schluss. In jeder einzelnen Szene, und davon gibt es in etwas mehr als eineinhalb Stunden leider zu viele und zu lang geratene, kippt immer wieder das Bild: Mensch oder Tier? Wer agiert hier? Personifiziert wird der Inbegriff des Wilden in Europa durch gleich drei lebensgroße Braunbären. Aber auch sie schlafwandeln zwischen unberechenbarer Bestie und domestiziertem Begleiter. Mal schlachten sie das ab, was ein Mensch sein könnte, mal lassen sie sich von einer Art mythischer Hüterin fast rituell die Brust geben. Das Ungestüme, das dazwischen liegt, zeigt die Geister, die niemand rief, die aber trotzdem dort lauern, zwischen den Bäumen, immer genau hinter einem. Lebendig werden sie vor allem im Narrativen, in Gestalt von Hexen in der Mittsommernacht, verlorenen Seelen und Fremden, die kommen und gehen, wortlos, geräuschlos, namenlos.
Und zu erzählen gibt es offenbar viel. Das macht die Sache etwas langatmig. Dramaturgisch hätten einige der Szenen eingedampft und verdichtet werden können. Irgendwann ist der soziale Kollektiv-Kampf eindeutig. Das Alpha-Männchen macht sich Vereinzelte aus dem Gefolge mittels Verschenken von Armbanduhren gefällig. Dieser Hexenkessel ist ein ganz, ganz alter. Soziale Funktionen und deren Aufrechterhalten funktionieren hier so wie überall und schon immer. Die Welt ist bereits eine alte.
Dieses beständige Hin- und Herkippen zwischen dem Menschlichen und dem Animalischen kulminiert in einem furiosen, brutalen Finale, aus dem niemand als Gewinner hervorgeht, nicht einmal die Natur. Und man mag sich fragen: Warum tun wir uns das gegenseitig an? Wim Vandekeybus schneidet hier, in den besten Momenten tief ins emotionale Fleisch der menschlichen Seele. Die immer wieder und noch einmal wiederholte Unbehaustheit der Kreatur als solcher wirkt dabei irgendwann etwas vordergründig. Andererseits wird sie ja eben nie ein Ende finden. Momentan sieht es nicht so aus, als fände der Mensch zu sich, innerhalb des Gefüges, das er meint, zu beherrschen.
Dieser Diskurs geht weit weg vom eigentlichen Kern des sonst bei Vandekeybus immer so im Mittelpunkt stehenden wilden Bewegungsmaterials. Die Blickrichtung weist in Richtung Tanztheater. Die immense Menge an Ideen machen diese Arbeit zu einem Roadtrip ohne Hemmungen durch ein unkontrolliertes Universum, in dem es nirgendwo eine Handbremse gibt. Am Ende dieser Irrfahrt bleiben nur offene Wunden.
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