Der erste Teil schlägt gleich ein wie der Blitz. Nach 20 Minuten sitzt man in der Pause zum nächsten Ballett-Akt der Premiere „Goecke/Godani/Montero“ erst mal wie betäubt unter dem Kristalllüster des Staatstheaters Nürnberg. Was war denn das eben? Ein tropischer Wirbelsturm? Zum Glück nicht. Aber so ähnlich. Dass er das internationale Parkett zu bespielen weiß, das hat der Choreograf und Ballettdirektor am Staatstheater Hannover Marco Goecke in Nürnberg bereits 2019 mit „Thin Skin“ bewiesen. Die Haut mag inzwischen dicker, auf jeden Fall aber widerstandsfähiger geworden sein während der Pandemie. Jedenfalls weckt er nun mit „Woke up Blind“ den Sehsinn der etwa auf 300 „Köpfe“ reduzierten Premierengäste. Vorab: Nicht nur Marco Goecke nutzt mit dieser Inszenierung die Chance, um sein wahres Ich, den Kern seines Schaffens, herauszuschälen. Und der faucht erst mal mit angespannten Muskeln eine ihn „an- und umtanzende“ Figur an. „Chchch“ macht die Wildkatze. Und bricht sich mit fast roboterartigen, oft abgehackten Bewegungen weiter Bahn durch das Dunkel der Bühne - seines Lebens? Andere orientierungslos Wirkende kommen hinzu. Die Szene ist - durch das dunkle Beinkleid und die Beleuchtung - auf die kraftvollen Bewegungen der Oberkörper reduziert. Später werden die Beinkleider dunkelrot - staksen die Tänzer etwas durch Blut? Angesichts des düsteren, fast schon unheimlichen Einstiegs Goeckes mag diese Fantasie gerechtfertigt sein. Die ohnehin ein flatterndes, zitterndes Eigenleben führenden Hände werden zu wilden Vogelschwärmen über dem Kopf der Tanzenden. Einzeln, zusammen: Das Bild von wild gewordenen Spielfiguren, die eine Umdrehung zu viel aufgezogen wurden, kommt einem in den Sinn. Und dann explodiert die Crew - parallel zu den ebenfalls ungezügelten Gitarrenriffs im Äther. Der 2015 von der Fachzeitschrift „tanz“ zum „Choreografen des Jahres“ gekürte Goecke hat das 2016 erstmals im „Nederlands Dans Theater“ aufgeführte „Woke up Blind“ dem Nürnberger Staatstheater nun als deutsche Uraufführung gebracht. Ein schönes Geschenk. Eines, das die wunderbaren Facetten seiner eigenwilligen Bewegungssprache zeigt. Goecke benutzt populäre Musik, Musik, die ihm etwas bedeutet. Etwa die der amerikanischen Rocklegende Jeff Buckley, der über seinen tragischen und frühen Tod hinaus seine Stimmgewalt weiterleben lässt. Und den Funken in der Tanzkompanie direkt entzündet, sie beherrscht. Für Marco Goecke geht es „nur“ um die Bewegung. Um die Beschäftigung mit dem Körper, dessen Formensprache einen Hinweis auf das „Innenleben“ gibt. Auf etwas, das man letzten Endes nicht begreifen, nicht greifen kann. Leben, das bedeutet auch, dass man das Leben nicht erklären kann. Und das macht auch Angst, sagt Goecke. Wenn er, so sagt er weiter, diese Angst begreifen könnte, würden keine Stücke wie „Woke up Blind“ entstehen. Da kann man nur sagen, dann doch lieber die Angst in Kauf nehmen. Und damit das unberechenbare Leben.
Dann der Italiener Jacopo Godani: Der Mittelteil des Ballettabends am Staatstheater Nürnberg ist mit Sicherheit der herausforderndste für die Kompanie. Nicht nur, aber auch wegen der akustischen Eindrücke, die die Tänzerinnen und Tänzer eins zu eins übersetzen. Und das will was heißen unter der Regie des Streichquartetts Nr. 4 /1928 von Béla Bartók. Godani begegnet dem nie gleichförmig verlaufenden Musikstück in „Metamorphers“ mit einer klaren Choreografie. Jeder Ton sitzt. Jeder Ton und sei er noch so gewagt wird teils unterschiedlich, aber immer mit exakt passenden Bewegungen oder auch mal eingefrorenen Bewegungen interpretiert. Ja, Tanz wird zur Melodie der Musik, quasi deren erweiterte Notenlinie. Godani ist ein Perfektionist bis in den letzten Lichtwinkel hinein. „Metamorphers“ ist auf das Nürnberger Ballettensemble zugeschnitten. Holt aus dem seiner Meinung nach „guten Tanzmaterial“ das Beste heraus. Die Freude an der Bewegung zu Musik, ja, da ist sie. Die Mission Godanis ist es, die Tänzerinnen und Tänzer im wahrsten Sinn des Wortes dazu zu bewegen, weiter Recherche am und im eigenen Körper zu betreiben. Gekleidet wie Besucher eines Sportstudios wirkt der optische Kontrast in „Metamorphers“ gerade auch im Hinblick auf die von Bartók verwendeten Elemente der Volksmusik. Fast hätten sie es getan: Polka zu tanzen. Es bleibt ein Versatzstück; die stark gezupfte Saite auf dem Griffbrett, auch „Bartók-Pizzicato“ genannt, bringt federnde, stark nuancierte Sequenzen. Graziöse Verbeugungen á la höfischer Tanz verbinden sich mit wilden, ekstatischen zeitgenössischen Elementen des Tanzes. Dann stiebt die zu einem dichten Körper verwobenen Crew wieder auseinander wie eine Schar Flamingos. Ein nicht nur für das Ballettensemble herausforderndes, alles abverlangendes Stück. Auch das Publikum muss erst mal Luft holen. So ist das, wenn man sich das Werk eines Weltstars zu Gemüte führt. Das wühlt auf, das beschäftigt, das lässt aber auch die zumindest mit dieser Kompanie schier unendlich wirkenden Bewegungsformen und Interpretationen von Tanz gewahr werden.
Goyo Montero, Ballettdirektor und Chefchoreograf in Nürnberg, sagt im Vorwort des Programmheftes, dass man lange am Programm gefeilt habe. Nicht wissen könnend, ob es so über die Bühne gehen könne. Sein Vertrauen in die Stargäste Goecke und Godani und deren Improvisationstalent hat sich gelohnt. Und letztlich setzt er selbst mit „Blitiri“ ein glänzendes, ein übermütiges „Wir-sind-noch-da-und-wie“-I-Tüpfelchen im dritten Teil des Abends. Der Schalk, er sitzt dem Meister trotz oder gerade wegen der Corona-Blessuren im Nacken. Das Wort Blitiri hat keinen Sinn. Und das ist auch gut so. Es stammt aus dem Mittelalter und heißt übersetzt so etwas wie „Blablabla“. Völlig sinnfrei also. Pure Lebenslust. Und Lust an der prallen, unübersehbaren Farbigkeit der Kostüme, optisch quietschend zum parallel aus den Lautsprechern tönenden Quietschen von „gequälten“ Luftballons. Die hängen, einer großen Kaviarwolke gleich, über den Köpfen der in bunte Kunststoff-Kleider gehüllten Tanzenden. Es hat etwas von einem Zirkusauftritt, der traurige und der lachende Clown, sie sind mittendrin. Oft sind es Kettenreaktionen. Ein „Dominostein“ stupst den anderen an, der in teils wilde Zuckungen verfällt, dabei den nächsten berührt, der einen Luftsprung macht und so weiter. Kontrastierende Ballettpersönlichkeiten, individuell und doch immer wieder vereint. Das ist: heiter. Erheiternd. Kein Wunder. Der für seinen Humor bekannte Wolfgang Amadeus Mozart stand mit seiner frechen Art Pate und hat den musikalischen Hintergrund mit Variationen über „Unser dummer Pöbel meint“ geliefert. Loslassen, Sich-gehen-Lassen, dafür bildet „Blackbird“ von Bobby McFerrin den akustischen Hintergrund. Ekstatisch wird es mit J Harvey und „Rid of me“: Montero will das Gesicht hinter dem Lächeln zeigen. Das von harter Arbeit gezeichnete, das in Hass-Liebe zu sich selbst und dem Publikum geprägte. Die Luftballons fallen auf die Truppe herunter. Zu Trauben gebildet scheinen sie manche zu verschlingen, manchmal auch zu beschützen. Sie werden als Prellbock zwischen Streitenden verwendet, als Unterlage für Verletzte und letztlich doch mit einem aggressiven und siegreichen Hieb knallend zerstört. Der Knalleffekt zum Schluss, er ist geglückt. Das Rätsel indessen, wie vielfältig einzelne Körperteile - und das sogar unabhängig voneinander - einsetzbar sind als Instrument der Bewegung, es bleibt ebenso ungelöst wie die Frage danach, wie meisterhaft Choreografen wie diese es schaffen, einer Kompagnie wie dieser ihren Geist einzuhauchen. Sich auf drei unterschiedliche und drei starke Charaktere wie die von Marco Goecke, Jacopo Godani und Goyo Montero einstellen zu können, dem kann nur größte Hochachtung gezollt werden.
www.staatstheater-nuernberg.de
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