Staatstheater Nürnberg Ballett, Narrenschiff

"Narrenschiff" von Goyo Montero. Tanz: Ensemble

Emanze an Bord

Das Staatstheater Nürnberg mit einem gewaltigen "Narrenschiff"

Gleichzeitig biblisch und politisch: Der Nürnberger Ballettchef Goyo Montero zeigt bildgewaltig die Ambivalenzen des menschlichen Miteinanders auf.

Nürnberg, 20/12/2021
Von Susanne Roth

Es sind zwei Stunden, die man so schnell nicht vergisst. Zwei Stunden, die sich in den Windungen des Gehirns festhaken, die dem Ensemble vor allem körperlich alles abverlangen, den Zuschauer mit äußerst sensiblen Antennen fast schon über die Grenze des Erträglichen auf der geistigen Ebene viel zumuten. Zumindest denjenigen unter ihnen, die mehr sehen möchten als die reine Ästhetik von Bewegung. Sicher möchte der Nürnberger Ballettchef Goyo Montero auch optische Seelenschmeichler schaffen. Aber er ist auch ein zutiefst nachdenklicher, politischer Mensch. Es interessiert ihn, was außerhalb der Mauern des Staatstheaters Nürnberg geschieht. Und er lebt mit der neuesten Inszenierung seine spirituelle Seite aus. „Narrenschiff“ - der Titel des zweiteiligen Ballettabends - bezieht sich auf den explosiven zweiten Teil eines sehr konträren Abends.

Der erste Teil des Ballettabends ist einer Frau gewidmet, um die sich zahlreiche Legenden und Mythen ranken: Maria Magdalena. Goyo Montero zeichnet das Bild einer Frau, die seiner Ansicht nach ihrer Zeit voraus war, das Bild einer ebenbürtigen Partnerin von Jesus, ihrem Seelengefährten. Er zeichnet das Bild einer eigenständigen Frau, die alles andere als mainstream ist. Ein Thema, an das man sich erst einmal herantrauen muss. Und eins, das eine lange geplante Zusammenarbeit mit dem russischen Weltstar Diana Vishneva wahr werden und damit nach eigener Aussage Monteros zu einem Höhepunkt seiner langjährigen Laufbahn am Staatstheater werden lässt.

Diana Vishneva ist Maria, tanzt Maria, leidet Maria, kämpft Maria. Das teils live, teils mit Musik vom Band wirkende Orchester lässt das Publikum schon zu Beginn des Maria-Teils zusammenzucken, unter düsteren Tönen aufhorchen. In akustisch dramatischen Höhen findet man eine sich im Dunkel – auf einer Vulkanebene? einem Meeresgrund? – wälzende Gruppe Menschen. Ein einziger, pulsierender, fließender Körper. Man mag an eine Amöbe denken, deren Körperteile gleichzeitig in alle Richtungen streben. Wellenartige Eruptionen bringen eine einzelne Person hervor, vom winzigen Lichtstrahl beleuchtet: Maria Magdalena. Sie bäumt sich in einem silbern glänzenden Meer wie eine Gebärende auf; die silberne Fläche bauscht sich zu einer gebirgigen Landschaft auf, in der sie zur Besinnung kommt. Schreiende, quasselnde, wirbelnde Leiber – ein akustischer Angriff auch für die Zuschauer, der durch Mark und Bein geht. Durch dieses Meer an Leibern hindurch muss sich Maria immer wieder aufs Neue einen Weg zu Jesus bahnen.

Die russische Komponistin Lera Auerbach hat gut getan, ihre Idee eines „Ballett Maria“ auf der Basis der Musik von „Dialoge mit Stabat Mater“, einem mehrstrophigen und ab dem 15. Jahrhundert mehrstimmig vorgebrachten Reimgedicht der ihren gekreuzigten Sohn betrauernden Maria gemeinsam mit Montero umzusetzen. Dieser arbeitet in diesem spirituellen Teil des Abends mit raffinierten Details. Die Kostüme seines Ensembles erinnern an die Antike, lassen viel Blick auf nackte Haut zu. Und man ist überrascht, wie vielfältig, wie aussagekräftig der Einsatz von Rettungsdecken sein kann. Mal kehrt Montero deren kalt-silbrige Seite hervor, mal deren blendend-warme Gold-Seite. Mal wogt das kühle Meer, mal wärmt die Sonne das Geschehen auf der Bühne. Dann wieder reißen sich die Mitglieder seines Ensembles Stücke aus dem Stoff, wickeln sich ein, bauen daraus Balken für den Kreuzweg, den Maria hier gemeinsam mit Jesus geht. Das Kreuz zu tragen ist nicht nur Männersache. Und Diana Vishneva: Sie lebt Maria Magdalena, sie ist Maria Magdalena, bis zur letzten Salbung, dem Abschied und dem Aufbruch. Mit jeder Geste, mit jeder Faser ihrer hingebungsvollen Art zu tanzen. Es ist unmöglich, sich an ihrer Darbietung satt zu sehen. Das Nürnberger Ensemble begleitet sie dabei respektvoll, aber durchaus auch selbstbewusst Akzente setzend.

Schnitt. Pause. Und dann: von wegen Ausklingen lassen, sich erholen. Mit Volldampf nimmt das Narrenschiff mit seiner skurrilen menschlichen Fracht Fahrt auf. Volldampf voraus, an fantasievoll gekleideten Gestalten ist kein Mangel. Clowns, Narren, Wirbeltierchen, der bunte Schirm geht mitsamt der Mannschaft in der mit einem Mal aggressiv sich türmenden Rettungsdecken-See unter; die zappelnde Gruppe wird an Land gespült. Auch der Mann mit seiner hoch sich auf dem Rücken türmenden Lebenslast ist dabei. Er wird sie nicht los. Kaum ist das letzte Wasser ausgespuckt. schon geht das Gerangel um die besten Plätze wieder los. Es ist ein Stoßen, Beißen, Kratzen, und doch schimmern immer wieder in der Menge der Flüchtenden Gesten der Mitmenschlichkeit auf: Ein Arm wird gestützt, eine Schulter zum Anlehnen angeboten.

Der erste, vergeistigte, mystische Teil mündet in einen anstrengenden Teil mit einer apokalyptischen Weltuntergangsstimmung. Und wieder krönt Goyo Montero diese Darbietung mit einem bejubelten Star: Der aus dem Opernensemble des Hauses kommenden Sopranistin Emily Newton kommt nicht nur die Aufgabe zu, Lieder von Richard Strauss in einem außerdem mit Eigenkompositionen von Owen Belton auch aus musikalischer Sicht hochwertigen Abend zu singen. Sie bringt sich außerdem schauspielerisch und in viel Tüll gehüllt einerseits als Retterin der nach einer neuen Heimat suchenden Flüchtlinge ein, die gleichzeitig zur blutsaugenden, verschlingenden Chimäre wird. Das kunstvoll eingesetzte und unglaubliche Möglichkeiten ausschöpfende Stilelement Rettungsdecke wird mit der entsprechenden Beleuchtung zu einem Meer aus blubberndem, stoßweise hervorquellendem Meer aus Blut.
Kommen die Flüchtlinge in einer besseren Welt an? Man weiß es nicht. Man wird es nie wissen. Die Leiber türmen sich zu einer Art Streitwagen, auf dem hoch oben eine Person die Peitsche schwingt. Es sind starke Bilder. Es sind beängstigende und gleichzeitig faszinierende Bilder, auch wenn es nicht nur Friede, Freude, Eitelkeit ist, was er bedient. Alles fließt, alles verwebt sich ineinander, fließt auseinander, wieder zusammen. Kein Mensch existiert allein, auch wenn er es wollte. Das ist besonders ergreifend in einer Szene dargestellt, bei der die Köpfe zweier Tanzenden über einen Nylonschlauch gleich einer Nabelschnur miteinander verbunden sind.

Bei Montero ist es nie einfach nur Tanz, schöne Bewegung, es sind nie einfach nur ergreifende Szenen. Die Stücke von Goyo Montero sind mehr als Tanz, als Ballett in seiner höchsten Vollendung: Sie sind immer auch eine Aussage, tragen eine politische Komponente in sich, gehen der Gesellschaft „an den Kragen“ und den Zuschauern unter die Haut. Was bleibt, sind ästhetische Bilder von Bewegungen und eine gewisse Nachdenklichkeit. Alle für einen? Einer für alle? Wann wird der Mensch aus seiner Geschichte lernen? Wann wird er begreifen, dass alle Menschen miteinander verbunden sind in der einzigen Welt, die er hat? Mit Sicherheit ein nie aufzulösendes Fragezeichen. Es bleiben also noch genügend Ausrufezeichen, die Montero auf seine unnachahmliche Art setzen kann. Da schippern sie weiter, die Narren, die das Schiff bevölkern, kichernd und keckernd im Sturm Schiffbruch erleiden und prustend auf einem Stück Treibholz wieder ihre Fahrt aufnehmen.

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