Ceren Orans neueste Tanzperformance betrifft jede*n. Auch wenn sich ihre „Geschichten in Blau“ in erster Linie an ein junges Publikum richten, jene Zielgruppe, für die die 1984 in Istanbul geborene Choreografin seit 2010 schon so manches sinnig-berührende Stück auf die Bühne gebracht hat. Nie zuvor allerdings mit einem thematisch derart persönlichen Hintergrund.
Im Alter von sechs Jahren wurde Oran zum Scheidungskind. 2006 zog die angehende Tänzerin hinaus in die Welt, machte ihren postgradualen Abschluss an der Salzburg Experimental Academy of Dance (SEAD) und ließ sich 2014 in München nieder. Die Arbeit an der Uraufführung führte sie und ihr Team aber für einen Teil des Probenprozesses zurück zum Vater und ins Haus der Mutter in die Türkei. Ein sehr emotionales Pflaster, um Eltern-Kind-Beziehungen zu erforschen, die wir Erwachsene als Erinnerungen und manchmal Erfahrungen mit Wirkkraftpotenzial aus dem Unterbewussten weiter in uns tragen.
Den unmittelbaren Kinderblick auf alle möglichen Formen von „Familie“ – klassisch, Patchwork oder Alleinerziehende – holte man sich außerdem aus mehrwöchigen Workshops mit Schüler*innen der Münchner Grundschule am Schererplatz. Mit dem Effekt, dass nun zu jedem Zeitpunkt der überaus poetischen Aufführung immer allein die Sichtweise des Kindes klar herauszulesen ist. Dabei wird seine Rolle, die haptisch eine Leerstelle bleibt, durchweg nur mittels spielerischen Einsatzes von in Größe und Farbe unterschiedlichen Kugeln symbolisiert.
Das Spiel beginnt hinter zwei blauen Stellwänden. Dahinter fliegt ein Apfel in die Luft. Mit ihm vergnügt sich zuerst mal allein der Tänzer Roni Sagi. Kurz darauf führt sich im violetten Hosenanzug Tänzerin Jovana Zelenović ein. In die Ballwechsel der beiden rollen auf Hockern nacheinander noch – ganz kindlich aufgeweckt – die beiden Livemusiker Milly Groz und Benjamin Omerzell. Die Konstellation Mutter, Vater, Geschwister wäre damit eigentlich komplett.
Doch es kommt anders, als man uns anfangs denken lässt. Die Sein-Ebenen von Groß und Klein sowie alle Gefühlswelten verschmelzen. Zu erleben ist ein leicht dechiffrierbares Amalgam aus abstraktem Tanz und Musik. Klänge, die sogar richtig elektronisch aufbrausend laut werden, als die Tänzer*innen mittels der mobilen, stoffbespannten Wände voneinander abgetrennt Zoff und Disharmonie verhandeln. Das macht Orans Erzählweise allgemeingültig besonders. Packend, weil ihre Interpreten sich nie banal an einer einzigen Aussage festfahren.
Groz und Omerzell richten es sich hinter zwei Keyboards bequem ein. Das Tänzerpaar findet in die Umarmung – den Apfel nun festgeklemmt zwischen Schläfe und Schläfe. Musikalisch fordern Tangoklänge mehr. Der Apfel rutscht tiefer, der Tanz miteinander wird wilder. Am Ende gemeinsam angebissen, muss das Obst dran glauben. Weitere solcher Flirtobjekte werden im Verlauf der ersten Stückhälfte mimisch vielsagend über den Tasten verspeist.
Weiter aber geht es mit einer blauen Glaskugel, die tänzerisch gehegt und gepflegt durch den Raum kullert. Doch mit jeder zusätzlichen Kugel wächst der Stress, diese in Bewegung und zugleich auch Sicherheit zu wissen. Das schönste Solo des Abends wiederum macht klar, dass Eltern Verantwortung und Kinder die (Ver-)Bindung nicht einfach abschütteln können. Jovana Zelenović führt das eindrucksvoll vor – eine große durchsichtige Kugel mit Sprüngen wie festgeklebt in ihrer Handfläche.
Im Anschluss an jede Vorstellung will Oran sich mit ihren Zuschauer*innen über das Gezeigte austauschen – darunter eine Serie sich schnell wechselnder, unterschiedlichster Familienporträts und Mitglieder, die sich langsam aus der Szenerie verabschieden. Ein Austausch über die grundlegenden Komponenten von Liebe, Angst, Wut und Geborgenheit. Womöglich sollte man die Altersempfehlung für Kinder ab 5 Jahren für das vielschichtig gelungene Werk jedoch um ein bis zwei Jahre anheben: aufgrund seiner Konzentration fordernden Intensität.
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