Walter Heun
Walter Heun

Drei Festivals für den Tanz

Walter Heun, Kulturmanager, Tanz- und Theaterproduzent, Vorstand des Bayerischen Landesverbandes für zeitgenössischen Tanz

Access to Dance, das Tanzportal für Bayern, befragt Tanzschaffende in Bayern zu ihrer Arbeit während der Pandemie. Walter Heun hat 2020 allen Widrigkeiten zum Trotz drei internationale Tanzfestivals realisiert und das Soloselbständigenprogramm für Künstler*innen in Bayern mitinitiiert – ein Plädoyer für den Tanz!

München, 05/03/2021
Herr Heun, Sie sind wahrscheinlich der einzige Veranstalter Deutschlands, dem es in der hochpandemischen Zeit im vergangenen Jahr gelungen war, mit der „Tanzplattform Deutschland“ im März und der „Tanzwerkstatt Europa“ im August, zwei große Festival-Veranstaltungen zu realisieren. Herzlichen Glückwunsch! Wie haben Sie das geschafft, und mit welchen Herausforderungen sahen Sie sich konfrontiert?

Ich muss die dritte Veranstaltung „ACCESS TO DANCE“ im Oktober addieren, mit Fokus auf Tänzer*innen aus Kanada. Die „Tanzplattform Deutschland“ war glücklich gelaufen, weil wir zeitgleich mit dem Après-Ski in Ischgl waren. Als wir fertig waren, war auch das Après-Ski fertig. Drei Tage nach Ende der Veranstaltung wurden die Theater geschlossen. Allerdings gab es schon im Vorfeld die Überlegung, die Veranstaltung abzusagen: Mit 7000 Zuschauer*innen und fünfhundert internationalen Veranstalter*innen hatte eine Art „Task Force“ beim Oberbürgermeister die Befürchtung, das könnte sich zum Superspreader-Event entwickeln. Aber wir hatten schon im Vorfeld agiert: Abstandregeln, Quarantäne für ausländisch eingereiste Künstler*innen, Corona-Tests – die es noch gar nicht so gab – und überall verfügbares Desinfektionsmittel. Heute ist das alles Standard, aber wir haben das quasi über Nacht erfunden.
Die „Tanzwerkstatt Europa“ im Sommer war ein langer Prozess: mögliche Öffnungsszenarien galt es zu durchdenken, Abläufe waren schwer kalkulierbar. Alles hing von der Infektionsentwicklung ab. Daher haben wir parallel eine analoge Festival-Version A und eine digitale Version A1 entwickelt. Den Künstler*innen haben wir gesagt, dass wir ab 1. Juli entscheiden, welche Version wir realisieren. Wir motivierten die Künstler*innen mit der Grundidee: die digitale Version musste genauso spannend sein, wie die analoge und sollte das choreografische Denken in eine andere Szenenfläche übertragen, das dem analogen Vorschlag zugrunde lag. Da entstanden tolle künstlerische Neubearbeitungen, die mich fast noch mehr interessiert hätten. Aber jeder weiß, wie wichtig beim Tanz das Live-Erlebnis ist. Kolleg*innen hatten mich angesprochen: Bist du wahnsinnig, wieso sagst du das nicht ab?! Über diese Frage habe ich mich nur gewundert. Wie kann man absagen? Hier geht es um das Überleben der Kunstform und der Künstler*innen. Und so wurde es eine meiner berührendsten Veranstaltungen jemals.
Im Herbst schlossen sich die Türen wieder: Auch Montreal galt als starkes Risikogebiet zu dieser Zeit, aber Kanada hatte sehr niedrige Inzidenzen. Daher ging Montreal im kanadischen Querschnitt auf, die Künstler*innen durften einreisen. Allerdings möchte ich hier eher von Fortune als Glück reden, denn wir haben hinter den Kulissen eine Menge dafür getan, dass auch diese Reihe stattfinden konnte.
Heute kann ich sagen, die größte Herausforderung waren die wirtschaftlichen Unsicherheiten in den Planungsprozessen. Für März hatte man wohl sogar darüber nachgedacht, die Finanzierung der Veranstaltung einzustellen. Das ist dann nicht so gekommen, und hierüber bin ich der Stadt München sehr dankbar. Teilweise haben sich Leute auf einmal aus der Finanzierung herausgenommen, andere sind dafür eingestiegen. Auch aus dieser Erfahrung heraus, haben Stefan Sixt und ich als Vorstände des BLZT dem Bayerischen Wissenschaft- und Kunstministerium die Schaffung von Ausfallbürgschaften für Veranstalter*innen nahegelegt.

Gemeinsam mit Stefan Sixt haben Sie, als erster Vorsitzender des Bayerischen Landesverbands für zeitgenössischen Tanz, das bayerische Corona-Soloselbständigenprogramm mit ins Leben gerufen – dieses wird vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst getragen. Was zeichnet dieses Hilfsprogramm für Tänzer*innen / Künstler*innen aus?

Die Aussage ist insofern richtig, als Stefan Sixt und ich bereits im März, direkt nach der „Tanzplattform“, dem Ministerium ein dreiteiliges Hilfsprogramm vorgeschlagen haben: Der Mittelbau hätte KSK-Künstler*innen aufgefangen, ein Unterbau die freien Künstler*innen beinhaltet, die es nicht in die KSK geschafft haben, und die man über die Berufsverbände für Künste hätte ausfindig machen können, und eine dritte Ebene wäre ein Vermögenserhalt für besserverdienende Künstler*innen gewesen. Denn es ging uns ja nicht darum, eine Mindestsumme von 1180 Euro zum Überleben für diese Menschen zu sichern. Insofern war das Hilfsprogramm von uns größer angedacht worden, wurde aber nur im mittleren Teil realisiert. Als wir das mitbekommen haben, haben wir uns mit anderen Verbänden zusammengetan und gemeinsam das Kultusministerium angesprochen. Daraus ist eine spannende Runde, ein „Begleitgremium“ von ca. 15 Berufsverbänden für Künste in Bayern entstanden. Die Anfangsidee kam also in der Tat von uns, aber der Realisierungsprozess war ein gemeinsamer. Wie oft im Leben: Gemeinsam geht’s besser.

Welche Probleme galt es auf Seiten des Bayerischen Staatsministeriums zu bewältigen und welche auf Seiten der Künstler*innen? Halten Sie das Hilfsprogramm für ausreichend?

Im ersten Prozess waren wir nicht einbezogen, beim zweiten Modell, das seit Oktober gilt, konnten wir mehr mitwirken: Es wurde eine zentrale Stelle bei „BAYERN KREATIV“ mit toller Software eingerichtet, auch die Legitimationsvorgänge sind offener geworden, als im Juni. Natürlich ist es vermessen zu denken, man könne Regulierungen des Arbeitsrechtes – die Grundsicherung, die Bundessache ist – beeinflussen. Denn wenn jemand Grundsicherung hat und das Einkommen abgezogen wird, wird das auf anderer Ebene entschieden als vom Bayerischen Kultusministerium. Trotzdem sollte auch jemand, der Grundsicherung bezieht, diese Anträge in Bayern stellen können und nicht gleich vom Prozess ausgeschlossen werden. Es hat sich einiges getan: Ausreichend wäre meines Erachtens aber unser erstes Modell gewesen, in dem es auch um Vermögenserhalt geht. Ich kenne Schauspieler*innen aus Funk und Fernsehen, die seit März keine Einnahmen mehr haben. Warum muss man jemanden, der früher 5000 Euro verdient hat, heute auf 1180 Euro „runterbeamen“, wenn er/sie Partner*in und zwei Kinder hat? Trotzdem: Gemessen mit dem, was anderswo passiert, ist das Hilfsprogramm phänomenal. Ich bekomme ja aus der ganzen Welt ungläubige Gratulationsschreiben, in denen steht: „Das ist ja irre, was die Politiker für euch in Deutschland tun.“ Heute habe ich den Eindruck, dass ein Informationsproblem existiert: Künstler*innen denken immer noch, es wäre wie im Sommer, und haben Angst, Anträge zu stellen. Und dann höre ich Sachen, bei denen ich mir denke, so lieb, ehrlich, aber auch naiv, können auch nur unsere Künstler*innen sein. Wenn mir jemand sagt, „ich habe gerade 2000 Euro, gebt es jemandem, der es nötiger hat.“ Oder: „ich habe gerade eine Erbschaft erhalten, ich komme über die Runden“, und nicht darüber nachdenkt, dass er damit seine Altersvorsorge verspielt. Dann ist das rührend solidarisch, aber diese Solidarität wird später nicht helfen. Wenn wir alle die Schuldenlast zu tragen haben, wird keiner sagen: Ach, die Künstler*innen haben damals auf 2000 Euro verzichtet. Da wünsche ich mir etwas mehr Geschäftstüchtigkeit. In diesem Sinne: Ich kann wirklich nur jeden dazu auffordern, einen Antrag zu stellen!

In Ihrer Arbeit haben Sie täglich mit nationalen und internationalen Tanzschaffenden vor allem aus der freien Szene zu tun. Mit welchen Problemen kämpfen diese derzeit besonders?

Die Probleme sind so mannigfaltig, dass man sie kaum beschreiben kann: Es geht los mit der künstlerischen Praxis, die sehr erschwert ist. Ich denke aber, dass gerade Tanzkünstler*innen immer ein Stück weit findiger sind, als der Rest der Gesellschaft. Bei einem schönen Projekt im Rahmen von „NPN - Stepping Out“ - unserem Förderprogramm im Rahmen von Neustart Kultur der BKM - hat sich z.B. ein Kollektiv von Künstler*innen in einem Seminarhaus eingemietet und dort einen Monat miteinander gearbeitet. Besonders schwierig ist es aber tatsächlich für alle ohne staatliche Förderung: Wie hält man den Körper bereit für den Tanz, wenn man nicht proben kann? Wenn darstellende Künstler*innen nicht arbeiten können und keinen Raum haben, verlieren die nicht nur ihre künstlerische Praxis, sondern ihr Instrument. Ich bekomme täglich mit, wie schwer das ist, die körperliche Leistungsfähigkeit über so einen langen Zeitraum aufrecht zu erhalten. Auch die gegenseitige Herausforderung von Tänzer*innen, die sich gegenseitig motivieren, um eine spezifische Leistung herzustellen, fehlt. Isolation betrifft viele, aber besonders schwer ist es für Künstler*innen. Theater ist ja ein kollektiver Prozess, da geht die Auseinandersetzung nicht nur auf der menschlichen, sondern auch auf der beruflichen Ebene verloren. Ich befürchte, dass wir schon viele verloren haben. Ein weiterer Punkt ist: Planungsunsicherheit. Es heißt ja seitens der Politik quasi ständig: „Morgen geht’s wieder los. Ach, morgen ja doch nicht. Vielleicht übermorgen.“ Diese Kurzfristigkeit ist schwierig. Kein klarer Fahrplan. Da kann man jetzt keine einzelnen Politiker*innen herausgreifen. Das ist in ganz Europa so, dass die Maßnahmen sehr kurzfristig angesetzt sind. Mittlerweile bin ich aber der Ansicht, dass die Kultur ein Bauernopfer der Politik ist. Die Schließung der Kultur hat keine rein medizinische Notwendigkeit, sondern ist eher eine „pädagogische Erziehung der Gesamtbevölkerung“. Politiker*innen begreifen scheinbar nicht, dass man die Kulturbetriebe endlich aufsperren muss, weil das den Menschen die Energie gibt, durchzuhalten. Ohne sinnstiftende (und hygienisch geregelte) Begegnung, suchen die Menschen ihre Nischen im privaten Bereich und dort entstehen neben dem Arbeitsplatz die meisten Infektionen. Wenn da Politiker*innen sagen, „die Supermärkte sind systemrelevant und die Müllabfuhr ist es“. Dann kann ich nur sagen: Tanz ist lebensrelevant!

Setzen die variierenden Restriktionen bei den Künstler*innen auch positive Impulse frei und dienen als Inspiration, oder führen diese nur zu Schwierigkeiten? Wie sehen Sie das aus Ihrer Perspektive?

Als wir die „Tanzwerkstatt Europa“ geplant hatten, mussten wir die Künstler*innen erstmal auf Ideen bringen: Wir hatten z.B. Yoann Bourgeois mit seinem Stück „Fugue Trampoline“ eingeladen, um es im Rahmen eines Symposiums 5 x zu zeigen. Hätte er nicht aus Frankreich einreisen können, hätten wir es filmisch umgesetzt: Das 1. Mal hätten wir von vorne gefilmt, dann von der Seite, von der Treppe aus in einer Perspektive von unten, das 4. Mal mittels einer am Körper montierten Kamera und das 5. Mal mit einer Drohne von oben. Wir hätten also das Geld, das an Reisekosten etc. gespart worden wäre, dem Künstler gegeben, um das technisch zu realisieren und der Problematik des zweidimensionalen Erlebnisses auf dem Bildschirm entgegenzuwirken. Letztlich konnte er dann zum Glück aber doch live auftreten. Mit dem längeren Lockdown haben mittlerweile viele eine Expertise im Umgang mit den Medien entwickelt. Auch wir selbst haben im Herbst unsere Publikumsgespräche online gestellt und festgestellt: Hoppla, mit mehr als 1000 Zuschauenden haben wir hier ein völlig neues Publikum. Das ist etwas, das Schule machen wird. Aber ich warne bereits vor den Zeiten, in denen Leute nicht mehr total gelangweilt zu Hause sitzen. Da werden die hohen Einschaltquoten wieder drastisch zurückgehen, denn die Sehnsucht nach Begegnung, nach dem Live-Erlebnis ist riesengroß.

Die Pandemie hat in der Tanz- und Kunstwelt zwangsläufig zahlreiche neue Formate entstehen lassen. Welche künstlerischen Anpassungen werden auch nach Corona bestehen bleiben?

Die Zoom-Konferenz wird fixer Bestandteil bleiben. Jenseits von Corona beschäftigen wir uns ja schon seit Jahren mit der Frage eines nachhaltigeren Produzierens. Viele Netzwerkmeetings, für die man früher um die halbe Welt gereist ist, werden auch in Zukunft als Zoom-Konferenzen stattfinden. Es wird künstlerische Arbeitsprozesse geben, die über Zoom eingeleitet werden und sich dann in kürzeren Produktionsphasen fortsetzen. Die Problematik ist, dass die Kreativität des Zufalls verlorengeht. Wenn ich irgendwo auf ein Festival oder eine Tanzplattform fahre, weiß ich, dass ich mit bestimmten Menschen über bestimmte Themen sprechen will. Abends ist dann aber irgendwo eine Bar, in der ich zufällig Leute treffe, die ich vorher gar nicht kannte. Und diese Menschen, die ich vorher nicht kannte, bringen mich auf irgendwelche Ideen, die ich noch gar nicht hatte. Sehr viele Menschen leben momentan von dem, was sie bereits in der Hosentasche haben, an Wissen und Inspiration. Sie schöpfen von dem, was sie sich bereits angeeignet haben – der kreative Input geht total verloren. Dabei bleibt Mobilität wichtig für künstlerischen Austausch. Wir müssen künstlerische Positionen aus anderen Ländern und Kulturkreisen erleben, um nicht in unserem lokalen Sumpf zu vermodern. In der „Tanzwerkstatt Europa“ versuchen wir darauf zu reagieren, Künstler*innen länger zu halten. Aber auch das ist in Zeiten immer knapper werdender Kassen schwierig. Verweildauer kostet immer Geld.

Welchen Einfluss hat die Pandemie auf Ihr privates Leben? Was vermissen Sie am meisten?

Privat bin ich ein Pendler zwischen München und Wien. Bei meinem letzten Überqueren der deutsch-österreichischen Grenze im Auto fühlte sich das dort – wo sonst 20 km Stau ist – an, wie früher, wenn man in die DDR gereist ist. Meines war das einzige Auto an der Grenze! Ansonsten sitzt man zu viel, bewegt sich zu wenig. Man arbeitet mehr, als man das jemals getan hat und merkt gar nicht mehr, wann man aufhören sollte. Man ist erschöpft, permanent erschöpft – und weiß gar nicht, warum. Neulich bin ich an einem Abend in München an der Isar spazieren gegangen. Dabei habe ich eine Frau kennengelernt, die gerade ihren Hund ausgeführt hat. Wir haben ca. 10 Minuten miteinander geredet, und nach den 10 Minuten habe ich mir gedacht: Wow, das war mein erster sozialer Kontakt heute und wird mein einziger sein. Ehrlich gesagt, möchte ich im Moment nicht jung sein, ohne feste Partnerschaft. Ich möchte nicht in einer Situation sein, in der ich mich noch etablieren und Neuland gewinnen muss. Es ist unglaublich schwierig für Menschen, die noch am Anfang einer Entwicklung stehen. Vor allem aber möchte ich kein Kind sein. Für Kinder ist das noch viel schwieriger als alles, was wir Erwachsenen erleben.

Kommentare

Noch keine Beiträge