München, 10/11/2021
Zwei Männer in enger Umarmung wirbeln leichtfüßig durch den Raum. Stehend erst, dann sackt ihr energetisches Tanzen in die Knie. Indem sie sich fest an den Armen fassen und die angewinkelten Beine voreinander verzahnen, geben sie dem Rotieren umeinander noch stärkeren Drive. Das kraftvolle, von zartem Pirouettieren des einen unter der erhobenen Hand des anderen durchwirkte Schrittmaterial stammt vom Anfang des 20. Jahrhunderts und schloss damals Frauen als Performerinnen aus.
Gleich in zwei Gastbeiträgen beschäftigt sich Alessandro Sciarroni mit Vergangenheit und Tradition. So holt der italienische Choreograf mit der Polka Chinata in „Save the last dance for me“ einen fast vergessenen Männer-Balztanz aus Bologna in die Gegenwart. Doch getanzt wird jetzt zu elektronischer Musik, und im virtuosen Spiel um vertraute Konkurrenz schwingen im Verlauf der 20-minütigen Tanzdarbietung Fragen zur Männlichkeitswahrnehmung heutzutage mit.
„Folk-S – Will you still love me tomorrow?“ entstand 2012 aus Interesse für Gruppenbildung und unter der Fragestellung, wie alte Volkstänze als populäre Phänomene jahrhundertelang überleben. Mit Hilfe von Videomaterial eignete man sich Vokabular und Rhythmen des in Bayern und Tirol beheimateten Schuhplattlers an. Nun starten vier Männer und zwei Frauen – im Kreis mit verklebten Augen – im Dunkeln durch. Sie stampfen und klatschen, lassen stets nur einen Arm kreisen, schlagen sich auf die Schenkel, schleudern einen Fuß in die Luft, bremsen die Turnschuhspitze mit den Fingern ab und landen – indem sie das Bein zurückschnellen lassen – auf dem Knie.
Insgesamt zehn typische Bewegungsmuster haben die Tänzer*innen zur Verfügung. Damit müssen sie einen in seiner Länge unbestimmten Abend füllen, der hauptsächlich vom Sound der meist unisono tanzenden Körper lebt. Wäre da nicht der bis zuletzt mittanzende Spanier Pablo Esbert Lilienfeld. In seiner Zweitfunktion als Komponist erweitert er das akustische Erlebnisspektrum um elektronisches Scharren und tosendes Sand-Wasser-Scheppern. Dem ewigen Schweißtreiben mischt er mal Echoeffekte bei oder legt mit fortschreitender Dauer Choräle und Songs als musikalisch pushende Begleitung auf.
In der nüchternen Reduktion von Bewegungssequenzen, die aus dem eigentlichen Trachtenfest-Kontext herausgelöst sind, wird zunehmend das Durchhaltevermögen sowohl der Performer*innen, vor allem aber der Zuschauer*innen auf die Probe gestellt. Denn: „Wer den Saal verlässt, darf nicht mehr zurück!“, erfahren wir nach dem Warm Up. Dass sich irgendwann Langeweile breitmacht, hat offenbar System. Als die ersten Zuschauer*innen nach einer Stunde ihre Plätze verlassen, sind noch fünf Tänzer*innen präsent – in jetzt beinahe militärisch anmutenden Diagonalen und Blockformationen.
Das Kunststück ist, wie sich die langsam schrumpfende Gruppe per Blickkontakt über Konstellationen im Raum und das sich immer wieder Neusynchronisieren in Bewegungsmustern ad hoc abstimmt. Ein Mechanismus, der beim Publikum zur Durststrecke wird, ehe die gespannte Stimmung ins herausfordernd Lustige kippt. Befreiter Jubel, als sich der letzte Plattler-Freak – beidbeinig ohne Bodenhaftung – mit aus dem Muster fallenden Luftsprüngen endlich verabschiedet.
Dagegen war das von Wen Hui mitgebrachte, stark autobiografische Tanzstück „I am 60“ schon rein inhaltlich ein völlig anderes Kaliber. Eines, das das Publikum über eine Stunde lang in die fremde Welt der chinesischen Choreografin und Tänzerin entführt. Ohne einen einzigen Durchhänger. Atmosphärisch vereinnahmend in seiner raffinierten Mischung aus projiziertem Fotomaterial, zeitgenössischen privaten Video- und alten Spielfilmausschnitten der 1930er-Jahre. Dazu live das sanfte Fließen der oft zurückhaltenden, spät erst ausgreifenden Bewegungen von Wen Hui, die letztes Jahr zu Recht mit der Goethe-Medaille des Goethe-Instituts ausgezeichnet wurde.
Inmitten eines schlichten Bühnensets aus fixem Hintergrundprospekt und einem beweglichen dünnen Hänger aus Stoff weiter vorne bekommt man viel Persönliches bis hin zu Abtreibung und Trennung nach 34 Jahren gemeinsamer Lebens- und Arbeitspartnerschaft erzählt. Darüber hinaus führt uns die Tänzerin aber einfühlsam-drastisch die missliche Lage der Frauen in ihrem Heimatland vor Augen.
So ringt Hui einmal mit einer simplen Stehlampe, von der sie regelrecht erdrückt zu werden scheint. Später werden statistische Aussagen und Zahlen eingeblendet. Ihr Tänzerinnenkörper verschmilzt mit dem Text, der Geschlechterungerechtigkeiten anprangert. Huis erstes Soloprojekt ist getanzte Dokumentation. Frappierend subtil funktioniert sie ausgewählte Kernmomente ihrer Familiengeschichte so um, dass sozial-politischer Druck über Generationen hinweg begreifbar wird. Leicht und fulminant zugleich.
Sein erst 2020 in Basel vorgestelltes Solo „Entre Deux:Testament“ konnte Dorine Mokha nicht mehr selbst zeigen. Der queere Performancekünstler verstarb im Januar 2021 plötzlich mit nur 31 Jahren. Er hinterließ jedoch ein recht eindrückliches Filmdokument, in dessen Schlusssequenz er auf einer staubigen Straße einen kleinen Rollkoffer hinter sich herzieht – auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft seines „Dazwischenseins“. Nur einmal noch schaut er Richtung Betrachter zurück. Schicksalhaft, da dieser ja nun bereits – gerade erst richtig neugierig gemacht – um das viel zu baldige Ende einer mutig angerissenen Lebensperspektive weiß. Das „Spielart“-Team nutzte die Möglichkeit, so posthum wenigstens filmisch einige Facetten aus Mokhas konfliktreichem Leben in der Demokratischen Republik Kongo aufzuzeigen und dem dritten und letzten Teil seiner autobiografischen Trilogie „Entre Deux“ nachzuspüren. Eine schöne Geste gegen das Vergessen, die zählt.
Bewegung als Statement, Revolte, erotisch-aufmüpfiger Spaß oder körperenergetische Ausgelassenheit. Getanzt wurde in der diesjährigen Ausgabe des „Spielart“-Festivals jedenfalls enorm viel und drakonisch virtuos. Nicht zuletzt in „Cria“ der brasilianischen Urban-Dance-Style-Truppe Cia Suave, die Funk aus Rio ebenso unglaublich verarbeitet wie individuelle Erfahrungen aus den Favelas. In der freizügigen Choreografie von Alice Ripoll durfte eine bunt zusammengewürfelte Crew ganz schamlos ausgeflippt agieren.
Das bereitete vor allem in der ersten Hälfte der vor Dynamik und Schrittakrobatik schier explodierenden Show eine Heidenfreude. Anfangs sorglos überwältigend wie eine karnevaleske Straßenparade – gespickt mit Figurenelementen und Momenten der Nähe, die wir Europäer*innen gemeinhin der lateinamerikanischen Salsa zuordnen. Sich offen auf Bilder von orgiastischer Aufgeladenheit, Begierden, dem Akt einer Geburt und Phasen des Kindseins einzulassen, war die unterhaltsame Kür des zweiten Teils. Lachkitzel inbegriffen.
Das oft ganzkörperliche Geschlängel und Vibrieren – bevorzugt in der zum Publikum hin ausgestellten Po- bzw. Hüftregion wie es unter anderem Nadia Beugrés fünf Tänzer*innen in „L’Homme rare“ wahrlich bahnbrechend zelebrierten – und das Stimmung schürende Durchkämmen von Räumen ging dabei im Laufe der aus Afrika, Rio de Janeiro, Mexiko oder dem Tschad eingeladenen Stücke stets eine enge Partnerschaft mit sozialpolitischen Querverweisen ein. Diese bekam man dann stellenweise auch in verbalen Dosen serviert, wobei das nicht immer jedermann verständliche Wort vergleichbar dem Tanz häufig zum Flirtinstrument wurde.
Sie wollten definitiv bewegen, all die tollen, oft (ihre) Andersartigkeit zu Inhalten erklärenden Performer*innen. Und wie ginge das besser als durch Erlangen von Sympathie. Dabei haben die meisten von ihnen bereits fruchtbare Arbeitsverbindungen zum Westen. Nun gaben sie zwei Wochen lang das Beste von sich preis, um uns mitzureißen und gleichzeitig ins Grübeln zu bringen. Galt es doch durch ein individuelles respektive kollektives Sich-(Her-)Ausstellen den Blickwinkel auf das Fremde und Diverse zu hinterfragen. Kein Thema wiegt momentan gesellschaftlich schwerer als ebendas. Da liegen Befremden und Faszination manchmal unmittelbar beieinander.
So mutete das Eröffnungsstück „Danza y Frontera“ („Tanz und Grenze“) der auch in Wien beheimateten mexikanisch-chilenischen Choreografin Amanda Piña wie ein mystisches Ritual an. Entwickelt auf Basis eines uralten, unter kolonialer Herrschaft die Unterdrückung manifestierenden Eroberungstanzes: der „Danza de Conquista“. Eine Zeremonie unterschiedlichster in einem Dazwischen lebender Wesen, die sich langsam Schritt für Schritt aus der prähispanischen Vergangenheit zu einem wilden, finalen Furor steigert. Am Ende ist das Ziel erreicht, sichtbar werden zu lassen, was sich des Nachts im sandigen Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA für kulturelle Konstellationen unter dem Einfluss extremer Gewalt in Zusammenhang mit Militarisierung, Drogenhandel bis hin zu industrieller Dumpinglohnsklaverei abspielt. Grandios, weil im Tanz über mystische Komponenten hinaus immer etwas Universelles und prompt Begreifbares mitschwingt.
In Taigué Ahmeds Tanzstück „The Drying Prayer“ ging es dagegen ganz konkret um Probleme der Bevölkerungsgruppen rund um den Tschadsee: wechselhafte Wasserstände, geringere Erträge beim Fischfang und blutige Auseinandersetzungen, die den Alltag erschweren und im Theater durch entsprechende Requisiten (Wanne, Gießkannen, Schlappensohlen, Netze etc.) symbolisiert werden. Damit führten die fünf involvierten Tänzer*innen eine Art Gottesdienst aus Anklage und hoffnungsvoller Zukunftsvision aus. Zeitgenössischer Tanz aus Afrika traf auf traditionelle Bewegungsformen. Geballte maskuline Power, die sich von Mann zu Mann unterschied wie Regionen des Landstrichs, um den sich alles dreht. Zum Schluss wurde selbstbewusst in neuen Klamotten und Feierlaune abgetanzt. Da hatte man schnell einhellige Begeisterung im Publikum.
Dass es Menschen gibt, die nicht einfach raus können aus der ihnen von Natur aus gegebenen Haut zeigte Sorour Darabi auf – in der ganz auf den eigenen, hyperfemininen Körper und einen leeren, grauen Raum reduzierten Soloperformance „Mowgli“. Das Territorium, auf dem sich hier bewegt wurde, ist der Alptraum einer geschlechtlich nicht zuzuordnenden Existenz, die aber dadurch zu sich findet, dass sie im Dschungel aus Unkenntnis, Gefühlen und Missverständnissen Halt sucht und Schutz findet. Eindringlich wie bewegend.
Gleich in zwei Gastbeiträgen beschäftigt sich Alessandro Sciarroni mit Vergangenheit und Tradition. So holt der italienische Choreograf mit der Polka Chinata in „Save the last dance for me“ einen fast vergessenen Männer-Balztanz aus Bologna in die Gegenwart. Doch getanzt wird jetzt zu elektronischer Musik, und im virtuosen Spiel um vertraute Konkurrenz schwingen im Verlauf der 20-minütigen Tanzdarbietung Fragen zur Männlichkeitswahrnehmung heutzutage mit.
„Folk-S – Will you still love me tomorrow?“ entstand 2012 aus Interesse für Gruppenbildung und unter der Fragestellung, wie alte Volkstänze als populäre Phänomene jahrhundertelang überleben. Mit Hilfe von Videomaterial eignete man sich Vokabular und Rhythmen des in Bayern und Tirol beheimateten Schuhplattlers an. Nun starten vier Männer und zwei Frauen – im Kreis mit verklebten Augen – im Dunkeln durch. Sie stampfen und klatschen, lassen stets nur einen Arm kreisen, schlagen sich auf die Schenkel, schleudern einen Fuß in die Luft, bremsen die Turnschuhspitze mit den Fingern ab und landen – indem sie das Bein zurückschnellen lassen – auf dem Knie.
Insgesamt zehn typische Bewegungsmuster haben die Tänzer*innen zur Verfügung. Damit müssen sie einen in seiner Länge unbestimmten Abend füllen, der hauptsächlich vom Sound der meist unisono tanzenden Körper lebt. Wäre da nicht der bis zuletzt mittanzende Spanier Pablo Esbert Lilienfeld. In seiner Zweitfunktion als Komponist erweitert er das akustische Erlebnisspektrum um elektronisches Scharren und tosendes Sand-Wasser-Scheppern. Dem ewigen Schweißtreiben mischt er mal Echoeffekte bei oder legt mit fortschreitender Dauer Choräle und Songs als musikalisch pushende Begleitung auf.
In der nüchternen Reduktion von Bewegungssequenzen, die aus dem eigentlichen Trachtenfest-Kontext herausgelöst sind, wird zunehmend das Durchhaltevermögen sowohl der Performer*innen, vor allem aber der Zuschauer*innen auf die Probe gestellt. Denn: „Wer den Saal verlässt, darf nicht mehr zurück!“, erfahren wir nach dem Warm Up. Dass sich irgendwann Langeweile breitmacht, hat offenbar System. Als die ersten Zuschauer*innen nach einer Stunde ihre Plätze verlassen, sind noch fünf Tänzer*innen präsent – in jetzt beinahe militärisch anmutenden Diagonalen und Blockformationen.
Das Kunststück ist, wie sich die langsam schrumpfende Gruppe per Blickkontakt über Konstellationen im Raum und das sich immer wieder Neusynchronisieren in Bewegungsmustern ad hoc abstimmt. Ein Mechanismus, der beim Publikum zur Durststrecke wird, ehe die gespannte Stimmung ins herausfordernd Lustige kippt. Befreiter Jubel, als sich der letzte Plattler-Freak – beidbeinig ohne Bodenhaftung – mit aus dem Muster fallenden Luftsprüngen endlich verabschiedet.
Dagegen war das von Wen Hui mitgebrachte, stark autobiografische Tanzstück „I am 60“ schon rein inhaltlich ein völlig anderes Kaliber. Eines, das das Publikum über eine Stunde lang in die fremde Welt der chinesischen Choreografin und Tänzerin entführt. Ohne einen einzigen Durchhänger. Atmosphärisch vereinnahmend in seiner raffinierten Mischung aus projiziertem Fotomaterial, zeitgenössischen privaten Video- und alten Spielfilmausschnitten der 1930er-Jahre. Dazu live das sanfte Fließen der oft zurückhaltenden, spät erst ausgreifenden Bewegungen von Wen Hui, die letztes Jahr zu Recht mit der Goethe-Medaille des Goethe-Instituts ausgezeichnet wurde.
Inmitten eines schlichten Bühnensets aus fixem Hintergrundprospekt und einem beweglichen dünnen Hänger aus Stoff weiter vorne bekommt man viel Persönliches bis hin zu Abtreibung und Trennung nach 34 Jahren gemeinsamer Lebens- und Arbeitspartnerschaft erzählt. Darüber hinaus führt uns die Tänzerin aber einfühlsam-drastisch die missliche Lage der Frauen in ihrem Heimatland vor Augen.
So ringt Hui einmal mit einer simplen Stehlampe, von der sie regelrecht erdrückt zu werden scheint. Später werden statistische Aussagen und Zahlen eingeblendet. Ihr Tänzerinnenkörper verschmilzt mit dem Text, der Geschlechterungerechtigkeiten anprangert. Huis erstes Soloprojekt ist getanzte Dokumentation. Frappierend subtil funktioniert sie ausgewählte Kernmomente ihrer Familiengeschichte so um, dass sozial-politischer Druck über Generationen hinweg begreifbar wird. Leicht und fulminant zugleich.
Sein erst 2020 in Basel vorgestelltes Solo „Entre Deux:Testament“ konnte Dorine Mokha nicht mehr selbst zeigen. Der queere Performancekünstler verstarb im Januar 2021 plötzlich mit nur 31 Jahren. Er hinterließ jedoch ein recht eindrückliches Filmdokument, in dessen Schlusssequenz er auf einer staubigen Straße einen kleinen Rollkoffer hinter sich herzieht – auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft seines „Dazwischenseins“. Nur einmal noch schaut er Richtung Betrachter zurück. Schicksalhaft, da dieser ja nun bereits – gerade erst richtig neugierig gemacht – um das viel zu baldige Ende einer mutig angerissenen Lebensperspektive weiß. Das „Spielart“-Team nutzte die Möglichkeit, so posthum wenigstens filmisch einige Facetten aus Mokhas konfliktreichem Leben in der Demokratischen Republik Kongo aufzuzeigen und dem dritten und letzten Teil seiner autobiografischen Trilogie „Entre Deux“ nachzuspüren. Eine schöne Geste gegen das Vergessen, die zählt.
Bewegung als Statement, Revolte, erotisch-aufmüpfiger Spaß oder körperenergetische Ausgelassenheit. Getanzt wurde in der diesjährigen Ausgabe des „Spielart“-Festivals jedenfalls enorm viel und drakonisch virtuos. Nicht zuletzt in „Cria“ der brasilianischen Urban-Dance-Style-Truppe Cia Suave, die Funk aus Rio ebenso unglaublich verarbeitet wie individuelle Erfahrungen aus den Favelas. In der freizügigen Choreografie von Alice Ripoll durfte eine bunt zusammengewürfelte Crew ganz schamlos ausgeflippt agieren.
Das bereitete vor allem in der ersten Hälfte der vor Dynamik und Schrittakrobatik schier explodierenden Show eine Heidenfreude. Anfangs sorglos überwältigend wie eine karnevaleske Straßenparade – gespickt mit Figurenelementen und Momenten der Nähe, die wir Europäer*innen gemeinhin der lateinamerikanischen Salsa zuordnen. Sich offen auf Bilder von orgiastischer Aufgeladenheit, Begierden, dem Akt einer Geburt und Phasen des Kindseins einzulassen, war die unterhaltsame Kür des zweiten Teils. Lachkitzel inbegriffen.
Das oft ganzkörperliche Geschlängel und Vibrieren – bevorzugt in der zum Publikum hin ausgestellten Po- bzw. Hüftregion wie es unter anderem Nadia Beugrés fünf Tänzer*innen in „L’Homme rare“ wahrlich bahnbrechend zelebrierten – und das Stimmung schürende Durchkämmen von Räumen ging dabei im Laufe der aus Afrika, Rio de Janeiro, Mexiko oder dem Tschad eingeladenen Stücke stets eine enge Partnerschaft mit sozialpolitischen Querverweisen ein. Diese bekam man dann stellenweise auch in verbalen Dosen serviert, wobei das nicht immer jedermann verständliche Wort vergleichbar dem Tanz häufig zum Flirtinstrument wurde.
Sie wollten definitiv bewegen, all die tollen, oft (ihre) Andersartigkeit zu Inhalten erklärenden Performer*innen. Und wie ginge das besser als durch Erlangen von Sympathie. Dabei haben die meisten von ihnen bereits fruchtbare Arbeitsverbindungen zum Westen. Nun gaben sie zwei Wochen lang das Beste von sich preis, um uns mitzureißen und gleichzeitig ins Grübeln zu bringen. Galt es doch durch ein individuelles respektive kollektives Sich-(Her-)Ausstellen den Blickwinkel auf das Fremde und Diverse zu hinterfragen. Kein Thema wiegt momentan gesellschaftlich schwerer als ebendas. Da liegen Befremden und Faszination manchmal unmittelbar beieinander.
So mutete das Eröffnungsstück „Danza y Frontera“ („Tanz und Grenze“) der auch in Wien beheimateten mexikanisch-chilenischen Choreografin Amanda Piña wie ein mystisches Ritual an. Entwickelt auf Basis eines uralten, unter kolonialer Herrschaft die Unterdrückung manifestierenden Eroberungstanzes: der „Danza de Conquista“. Eine Zeremonie unterschiedlichster in einem Dazwischen lebender Wesen, die sich langsam Schritt für Schritt aus der prähispanischen Vergangenheit zu einem wilden, finalen Furor steigert. Am Ende ist das Ziel erreicht, sichtbar werden zu lassen, was sich des Nachts im sandigen Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA für kulturelle Konstellationen unter dem Einfluss extremer Gewalt in Zusammenhang mit Militarisierung, Drogenhandel bis hin zu industrieller Dumpinglohnsklaverei abspielt. Grandios, weil im Tanz über mystische Komponenten hinaus immer etwas Universelles und prompt Begreifbares mitschwingt.
In Taigué Ahmeds Tanzstück „The Drying Prayer“ ging es dagegen ganz konkret um Probleme der Bevölkerungsgruppen rund um den Tschadsee: wechselhafte Wasserstände, geringere Erträge beim Fischfang und blutige Auseinandersetzungen, die den Alltag erschweren und im Theater durch entsprechende Requisiten (Wanne, Gießkannen, Schlappensohlen, Netze etc.) symbolisiert werden. Damit führten die fünf involvierten Tänzer*innen eine Art Gottesdienst aus Anklage und hoffnungsvoller Zukunftsvision aus. Zeitgenössischer Tanz aus Afrika traf auf traditionelle Bewegungsformen. Geballte maskuline Power, die sich von Mann zu Mann unterschied wie Regionen des Landstrichs, um den sich alles dreht. Zum Schluss wurde selbstbewusst in neuen Klamotten und Feierlaune abgetanzt. Da hatte man schnell einhellige Begeisterung im Publikum.
Dass es Menschen gibt, die nicht einfach raus können aus der ihnen von Natur aus gegebenen Haut zeigte Sorour Darabi auf – in der ganz auf den eigenen, hyperfemininen Körper und einen leeren, grauen Raum reduzierten Soloperformance „Mowgli“. Das Territorium, auf dem sich hier bewegt wurde, ist der Alptraum einer geschlechtlich nicht zuzuordnenden Existenz, die aber dadurch zu sich findet, dass sie im Dschungel aus Unkenntnis, Gefühlen und Missverständnissen Halt sucht und Schutz findet. Eindringlich wie bewegend.
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