Der Tod und der Tanz – seit Jahrhunderten bilden sie ein eng umschlungenes Paar und drehen ihre Runden vorbei an Geschichten, die immer wieder von der sichtbaren, geordneten Welt und jener anderen, auch verdrängten Welt erzählen, die aber all jenes enthält, was nicht sein darf: die Verführung, die Lust, die Begierde, die Freude an Macht und Kontrolle, die Manipulation, aber auch den Wunsch nach Erlösung von Schmerz, Leid und Qual.
Ein dickes Kapitel der Ballettgeschichte in den letzten zweihundert Jahren baut im Grunde auf diesem Hauptmotiv auf – von „Giselle“ über Petipas Klassiker bis zu Strawinskys „Der Feuervogel“. Völlig überraschend lässt nun Goyo Montero in seiner Nürnberger Neuadaption von Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ dieses Motiv erklingen. Anstatt sich fröhlich in die Komödie über ineinander verliebte und miteinander streitende Paare aus der antiken Athener Aristokratie und der geheimnisvollen Welt der Elfen im Wald hineinzustürzen, konfrontiert der Spanier das Publikum zu Beginn seiner Uraufführung mit etwas, was für viele ein Tabu ist: die Beschäftigung mit dem plötzlichen Tod eines eigenen Kindes.
Und so erklingt Schuberts „Erlkönig“ nach der berühmten Goethe-Ballade und nicht Felix Mendelssohn Bartholdy. Vorn am Bühnenrand: Oscar Alonso, im Arm eine lebensecht aussehende Puppe, die dem Puck-Tänzer Aleksandro Akapohi ähnlich sieht. Vor Sorgen und in Bedrängnis treibt es ihn durch die imaginierte Winternacht. Zu hören ist der Lockruf des Elfenkönigs. Das Kind verschwindet. Alonso, hier mehr Schauspieler als Tänzer, zeigt durch sein mimisches Spiel, was kaum auszuhalten ist, wie Schmerz einen Menschen innerlich zerreißen kann.
Mit dieser „unerhörten Begebenheit“ beginnt also Monteros neues Tanzstück. Diese hilft ihm, wie er im Programmheft verrät, seiner Kreation Sinn und Bedeutung zu verleihen. Es kommt nicht von ungefähr, dass seit vielen Jahren genau deswegen die Werke des diesjährigen Tanzpreis-Trägers für unsere Gegenwart so relevant sind. Wie zuvor bei „Romeo und Julia“, „Cinderella“, „Nussknacker“ und „Dornröschen“, aber auch bei „Don Quijote“ oder „Dürer“ lässt sich Montero nicht von den Emotionen und Erzählungen verführen, sondern nimmt die in ihnen enthaltenen Energien und psychologischen Grundmuster sehr genau und sehr ernst. Auf diese Weise gelingt es ihm, die jeweilige Handlung aus seinem Innersten heraus wahrhaftig zu erzählen und für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Die rätselhaftesten Figuren, beispielsweise Puck, werden so menschlich greifbar, und ihr Tun oder ihr Erleben konfrontiert den Zuschauer im besten Sinne mit sich selbst.
Montero ist dabei, das zeigt auch dieser „Sommernachtstraum“, keiner, der die hohe Authentizität seiner Werke, ihren hohen Grad an Intensität, allein über seine immer zeitgenössischer werdende Bewegungssignatur gewinnt. Eher wie ein Filmregisseur zieht er Szene für Szene die Fäden, um das psychologische Dickicht, die Abgründe sichtbar zu machen – so schillernd sie auch sein werden. Und so hat man auch bei diesem so filmisch angelegten „Sommernachtstraum“ kaum Chancen, sich den dadurch vermittelten emotionalen Aggregatzuständen, die wie energetische Resonanzfelder vom Bühnengeschehen aus auf einen zurollen, zu entziehen.
Welche Geschichte erzählt Montero also in seinem „Sommernachtstraum“? Kurzum: Puck ist nicht nur der schelmische, katzenhafte Hofnarr eines Elfenkönigs, sondern zunächst der verstorbene Sohn, der von einem anderen Vater gerufen wurde. Sein erster Vater, der Weber Nick Bottom, ist nicht der Handwerker, der in den Wald geht, um für das Königspaar ein Theaterstück einzuüben, sondern ein Mann, der den Tod seines Sohns nicht verwindet und herumirren wird, nur um ihn vielleicht in der anderen Welt wiederzufinden.
Es ist ein Höhepunkt in dieser sehenswerten Neukreation, wie das Spiel im Spiel im Spiel, das die Handwerker in Shakespeares Komödie aufführen, hier zu einer Art comicartigen Familienaufstellung durch den traumatisierten Vater gerät: die zu Salzsäulen erstarrten Liebespaare werden von Alonso wie Standfiguren hilflos herumgetragen und an anderer Stelle platziert – begleitet von einer zu einem Löwen mutierten Helena, die ihre entfesselten Gefühle nur noch herausbrüllen kann.
Insgesamt mutet dieser „Sommernachtstraum“ dem Nürnberger Publikum ähnlich viel zu wie Monteros Neuinszenierung von „Don Quijote“ im vergangenen Jahr. Nur sind es nicht Krieg und Terror in der Welt, sondern Liebe und Leidenschaft, Wut und Hass zwischen den Paaren Hermia (Nuria Fau) und Lysander (Dayne Florence), Helena (Esther Pérez) und Demetrius (Joel Distefano) und schließlich Oberon (Luis Tena) und Titania (Rachelle Scott). In Streit geraten sie alle, weil Oberon sich an seiner stärkeren Gattin Titania rächen möchte. Auf seinen Wunsch beträufelt Puck alle Protagonisten mit dem Liebesnektar und verhilft so den Projektionen der Liebenden aufeinander zu Vorschub. Ihr permanentes Zetern und uferloses Gehacke aufeinander, das weniger getanzt als sehr gestisch dargestellt wird, vor allem zwischen Helena, Lysander und Demetrius, geht irgendwann sehr unter die Haut. Ebenso die von geheimnisvoller Leidenschaft geprägte, wie fremd erscheinende Herrschaftlichkeit der Titania, die in Rachelle Scott, der Bayerischen Kulturförderpreisträgerin, eine herrliche Interpretin findet.
Monteros Hauskomponist Owen Bolten ist es an all diesen Stellen erneut gelungen, eine zeitgenössische elektronische Komposition zu entwerfen, die messerscharf Stimmungsräume und emotionale Handlungen mitkonturiert. Sie gibt der ansonsten reduziert gehaltenen Bühne von Eva Adler, die nur aus freier Fläche, Rampen und unzähligen, von der Decke hängenden Tauen und Seilen als Wald besteht, eine hohe dramaturgische Qualität. Zum Schluss öffnet sich die Tür zum Parkett und Alexsandro Akapohi gleitet als Puck in die erste Reihe – die zauberhaften Welten der Bühne und die Realität verbinden sich. Ein großartiger, unheimlicher Moment, als ob nur darauf gewartet werden würde, das Spiel des Verwirrens und des Aufdeckens neuer Sinnlichkeiten unter uns zu entfachen.
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