NEWSROOM - #2
Die neueste Folge unserer Newssendung zu Tanz aus Bayern
Die zweite Hälfte der diesjährigen Tanzwerkstatt Europa glänzt mit internationalen Gastspielen und einer erfolgreichen Münchner Produktion
Werkstätten gibt es viele, doch die richtige zu finden, die, die das Fahrzeug anständig und zu fairen Preisen auf Vordermann bringt, ist nicht immer leicht. Die Tanzwerkstatt Europa ist seit den 1990er Jahren fest in der Kulturlandschaft Münchens verankert und die Tanzmechaniker um Gründer Walter Heun leisten jedes Jahr beste Arbeit.
Dieses Jahr beginnt die zweite Hälfte der Tanzwerkstatt Europa mit einer Performance der in Genf lebenden Tänzerin Ruth Childs. Ruth ist die Nichte der Tanzlegende Lucinda Childs, die in den 1960er und 1970er Jahren in Amerika den klassischen Tanz gehörig durcheinander brachte und den postmodernen vor allem am Judson Dance Theater mitbegründete. Lucinda Childs Choreografien sind durchweg geometrisch und nach einem nur ihr einleuchtenden System geplant, dabei jedoch immer humorvoll. Dieses Childs’sche System versteht selbst die Nichte erst nach zeitintensivem Studium. Ruth Childs hat in Absprache mit ihrer Tante drei der stärksten Perfomances dieser neu interpretiert: „Pastime (1963) / Carnation (1964) / Museum Piece (1965)“. Was dabei herausgekommen ist, ist starke Körperkunst. In einer Szene zeigt sie über zehn Minuten lang nur auf ihrem Heck sitzend, Oberkörper und Beine von sich gestreckt und mit einem weiten, grauen Pullover umhüllt, eine Badewannenszene, in der sich das imaginierte Wasser leider außerhalb der Wanne befindet. „Die kleinen Bewegungen sind die fiesen“, die sie an ihre körperlichen Grenzen bringen, sagt Ruth. Lucinda Childs selbst ist in zwei Videos („Calico Mingling“ von 1973 und „Katema“ von 1978) zu bestaunen, die auf zwei Bildschirmen laufen, die mittig und rechts auf der Bühne platziert sind. Zusammen mit den Performanceneuauflagen der Nichte offenbart sich die Präzision ihrer Arbeit, die die beiden Childs vereint. Dabei sind die Themen zeitlos: Emanzipation, Frustration und Kulturkritik. Aufgegriffen und bearbeitet mit System und in Zahlenkombinationen versteht sich.
Ganz ähnlich systematisch hypnotisierend sind am folgenden Abend die beiden Stücke „La Nuit“ und „Sur le fil“ der in Frankreich lebenden Algerierin Nacera Belaza. In „La Nuit“ dreht und dreht und dreht sich die autodidaktische Tänzerin im Kreis. In einem kargen Lichtkegel umkreist sie sich selbst, die Bühne ist dementsprechend durch Licht begrenzt. Während Nacera Belaza sich auf diese sich wiederholenden und rhythmischen Bewegungen fokussieren muss, kann man sich als Zuschauer auf andere Dinge konzentrieren. Auf Belazas Füße und die leicht divergierenden Schritte von Umdrehung zu Umdrehung zum Beispiel. Oder auf das Lächeln, das ihr gegen Ende von „La Nuit“ über das Gesicht huscht. In der Repetition lassen sich neue Erfahrungswelten erkennen, nicht nur für den Performer. Toll ist an „La Nuit“ auch, dass Belaza Sound und Licht selbst designt hat. Bis es irgendwann ausgeht und die Performance zu Ende ist. Doch geht es direkt weiter mit dem sich perfekt anschließenden „Sur le fil“. Vier Performerinnen drehen sich ebenfalls abwechselnd in einem neuen Lichtkreis. Bald verschwimmt alles um sie herum und man weiß nicht mehr, wer sich eigentlich gerade bewegt. Die Personen sind ununterscheidbar geworden. Begleitet wird dieses Spektakel von durchdringenden Beats. Wie viele Umdrehungen sie in den beiden Performances insgesamt hinlegen, kann man allerdings nur schätzen.
Abwechslungsreicher wird es am Mittwochabend bei „Who’s Next. Open Stage“. Nachwuchstänzer und –performer konnten sich mit ihren 10-minütigen Performanceideen bewerben. Sieben wurden ausgewählt und durften ihre künstlerischen Kleinwagen vor Publikum präsentieren: Lisa Haucke tanzt in ihrer Improvisation „shonky stony“ mit einem Eimer. Erwin Aljukic und Iris-Mirjam Behnke gehen in „Pelikankarpfen“ dem Tanz von körperlich Behinderten auf die Spur. Es beginnt im quietschenden Dunkel, bei Licht stellt sich die Geräuschquelle als Rollstuhl heraus. Darauf Aljukic, der mit allem, was er bewegen kann (er leidet an der Glasknochenkrankheit), ein Solo hinlegt, das schützende und geschützte Fahrzeug verlässt und auf dem Boden weiter mit den Händen tanzt. Was für ihn Tanz ist, sieht für den Zuschauer manchmal wie Sportgymnastik aus und eröffnet die Frage nach den Normen und Erwartungen von und an Tanz.
Erwartungen an sich selbst, ihren Körper und die Form des Tanzes im Allgemeinen hinterfragt und provoziert auch die zierliche Erica D’Amico, die aktuell an der Iwanson Schule studiert. In „this DANCE Is“, einem dynamischen, rhythmischen Solo, in dem jede Bewegung sitzt, lässt sie erkennen, was alles in ihr brodelt und sich durch Tanz einen Weg nach draußen sucht. Auch bei Charlie Fouchier muss etwas raus. In „TNT“ wird zuerst das Publikum angestarrt, um Emotionen wachzurütteln, um es in der zweiten Episode indirekt anzuschreien (er läuft mit dem Rücken auf es zu) und etwas lockerer zu machen, um im dritten Schritt nackt auf der Bühne zu liegen und den Zuschauer mit sich zu konfrontieren. Bis er in einem weiteren Schritt nackt zu tanzen beginnt, nur sein Gesicht ist bekleidet. Der Fokus liegt ganz auf dem Tänzerkörper und gibt die Sicht auf die anatomischen Bewegungs- und Muskelabläufe frei. Dabei ist diese kurze Performance nur ein Vorgeschmack auf das, was Charlie Fouchier eigentlich vorhat und 2018 unter dem Titel „Touch not touch – haptic landscapes“ Premiere feiern wird. Ballett, Tabledance, GoGo und eine Science-Fiction-Geschichte präsentiert die Choreografin Alina Belyagina in „Imago“. Ausgehend von Kafkas „Die Verwandlung“ zeigt die Tänzerin Alexandra Karaa die Transformation einer sexy Frau hin zur mutierten, doch immer noch ansehnlichen Maschine. Dabei tanzt sie auf Spitzen von Lichtkegel zu Lichtkegel, fehlerfrei und in ein futuristisches Outfit gehüllt. Den Abschluss des Nachwuchsabends macht die gebürtige Mexikanerin Yolanda Morales mit einem feministischen Hundegebell. Was Bildung und Unabhängigkeit für eine Frau bedeuten, entwickelt sich bei ihr in kürzester Zeit zu einem absurd-tollen Tanzspektakel.
Außergewöhnlich ist auch das von Moritz Ostruschnjak choreografierte „Text Neck“, das im vergangenen Dezember im Schwere-Reiter uraufgeführt wurde. Ein Performertrio (Isaac Spencer, Anna Fontanet und Alexis Jestin), eine Lichtdesignerin (Tanja Rühl) und ein Musikertrio (48nord: Ulrich Müller, Siegfried Rössert und Patrick Schimanski) erörtern darin, wie digitale Technologien unser Dasein, unsere Interaktionen und unsere Bewegungen beeinflussen. Dabei ergeben die jeweiligen Disziplinen – Tanz, Licht und Musik – eine grandiose Symbiose. „Text Neck“ kam bereits im Dezember gut beim Münchner Publikum an, hat den Kultur-TÜV sozusagen bestanden und wird bei der Tanzwerkstatt gleich zwei Mal aufgeführt und mit tosendem Applaus belohnt.
Am Freitagabend präsentiert der slowakische Tänzer und Choreograf Milan Tomasik den letzten Teil seiner Solo-Trilogie „Solo 2016“ (nach „Within“ von 2006 und „Off-Beat“ von 2011). Darin will Tomasik, Mitbegründer des Les SlovaKs Tanzkollektivs, die Vereinigung von Vergangenheit und Zukunft mithilfe der Gegenwart vornehmen. Tomasiks Solo gipfelt allerdings in fast klischeehaften und teilweise sehr komischen Szenen. Wenn er beispielsweise den Zuschauern in der ersten Reihe die Hände gibt oder an einem von der Decke gelassenen Seil rotiert und zwischendrin Einlagen fast klassischen Tanzes liefert. Im Hintergrund wird er dabei teilweise von einer Weltkugel-Video-Projektion begleitet und überhitzt den Performancemotor somit ein bisschen zu stark.
Die Workshops von Milan Tomasik während der Tanzwerkstatt sind vielleicht umso erfolgreicher gewesen. Leider konnte man keine Ergebnisse oder Einblicke in die Kurse „Happy Feet“ und „Playful Presence“ erhalten. Dafür aber in sieben andere der insgesamt 16 Workshops und Lectures, die während der Tanzwerkstatt durchgeführt und am Abschlusssamstag bei der „Final Lecture Demonstration“ in der Muffathalle von den Lehrenden und Teilnehmenden präsentiert wurden. Ganz entspannt ging es los mit einer Lehrstunde in „Tai-Chi Dao-Yin“ von Chiang Mei Wang. Es folgen Stephan Herwigs „Contemporary Dance for Beginners“, eine Frauenklasse, die bei Virginie Roy „Fully aware while Dancing“ war, Charlie Morrissey mit seiner „Mass, Mind and Motion“-Gruppe, die mit geschlossenen Augen den Raum erkundet, eine tolle „Gaga“-Performance von Bosmat Nossan angeleitet, ein zeitgenössisches Stück von Ori Flomin und eine anspruchsvolle, in nur fünf Tagen einstudierte, Choreografie von German Jauregui „Ultima Vez Vocabulary“.
Und so schließt die Tanzwerkstatt Europa 2017. Alte Karosserien wurden neu lackiert, wie bei Familie Childs, bei „Who’s next. Open Stage“ wurden neue Modelle vorgestellt. Außerdem wurden einwandfrei laufende Performances nochmals vorgefahren („Text Neck“). Mit der Tanzwerkstatt Europa 2017 kann man vollends zufrieden sein, sie an Bekannte weiterempfehlen und direkt einen Termin für 2018 vereinbaren.
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