Verstörend schön
Moritz Ostruschnjaks „Cry Why“ im schwere reiter
Die Gruppendynamik ist so eine Sache. Entweder läuft‘s gut und geordnet ab und alle sind sich einig – oder eben nicht, dann ist Chaos angesagt und man kommt auf keinen gemeinsamen Nenner. Dieses Schwarmverhalten, diese ominöse Kollektive Intelligenz wurde ausführlich an Vögeln und Ameisen erforscht und interessiert den Münchner Performer und Choreografen Moritz Ostruschnjak. In seiner „futurologischen“ Performance überträgt er das Verhalten und die gesamte Wissenschaft dahinter auf den modernen, tanzenden Menschen und lässt ihn zu elektronischen Klängen des jungen Musik-Duos Günther Lause tanzen.
Genannt „Boids“ nimmt die Performance Bezug auf eine Ende der 1980er Jahre entwickelte Computersimulation. Sie vereinfachte das Schwarmverhalten und reduzierte es auf drei Regeln. Bird-oid objects (kurz Boids, dt. vogelähnlich) sind künstlich programmierte Dreiecke, die erstens in ihrem digitalen Schwarm große Ansammlungen vermeiden, sich zweitens zur Mitte der Gruppe hin und drittens nah beieinander her bewegen, sollten sie getrennt werden – geht einer nach links, bewegen sich die anderen auch nach links. Diese Regeln gelten nicht unbedingt gleichzeitig und können nacheinander hinzu oder weg programmiert werden. Je nachdem, welches Ziel dem jeweiligen Schwarm vorgegeben wird. Ohne Regeln herrscht jedoch Chaos. Verhalten sich nun fünf lebendige Tänzer wie künstlich generierte Boids in einem digitalen Schwarm, kann man selbst ins Schwärmen geraten.
Die fünf Tänzer stehen im weißen, vernebelten Raum verteilt und erwachen ganz langsam zum Leben. Da wird sich zum Beispiel gegenseitig der Kopf auf die Schulter gelegt oder ansatzweise umarmt, je nachdem, wie kuschelig die Stimmung der Gruppe gerade ist. Sie bewegen sich bald immer schneller und breiten sich mehr und mehr auf der Tanzfläche aus, bis sie sie komplett vereinnahmt haben. Sie wandern gemeinsam zielstrebig von einer Ecke des Raumes in die andere, reihen sich ordentlich auf oder suchen Sinn und Halt im Chaos.
Wie schon in Ostruschnjaks letzter Performance „Text Neck“ (die das Verhalten des Menschen im modernen, digitalen Zeitalter untersuchte) steigert sich über den Zeitraum von circa einer Stunde der Tanz, die Musik und die Stimmung, bis alles hypnotisch und hypnotisierend in der Sphäre der dezent beleuchteten Bühne wabert. In der zweiten, dynamischeren Hälfte von „Boids“ sind die Tänzer ganz auf ihre Körper und tierischen Verrenkungen im Rhythmus der elektronischen Musik konzentriert. Manchmal sehen sie wirklich aus wie Vögel, so wie sie da mit den zum Dreieck geformten, in die Hüfte gestützten Armen auf ihren Fußspitzen umher trippeln. Dabei ihre Köpfe mit den weit aufgerissenen Mündern gen Decke recken, ihre flachen Hände auf die Füße klatschen lassen und den Zuschauer mit ihren vogelgleichen Blicken fixieren. Das ist gruselig und schön zugleich.
In Soloszenen wird das tanzende Individuum aus der Gruppe hervorgehoben, während die anderen zusammen auf dessen Rückkehr in tiefer Hocke und dabei in gleichbleibender Bewegung zuckend warten. Dies erinnert stark an die Tanzstile der israelischen Choreografen Ohad Naharin oder Sharon Eyal. Kein Wunder sind doch fast alle der fünf Tänzer bereits mit ihnen persönlich, ihren Choreografien, der von Naharin erfundenen Gaga-Methode oder dem sehr vogeloiden Hasadna-Tanzstil in Berührung gekommen. Chiaki Horita war beispielsweise Mitglied im Batsheva Ensemble, der Nachwuchsformation der Batsheva Dance Company, die seit 1990 von Naharin geleitet wird. Und Darren Devaney ist momentan mit Sharon Eyal auf Tour, die lange Choreografin für die Batsheva Dance Company war. 2013 hat Eyal ihre eigene Kompanie namens L-E-V (dt. Herz) gegründet. Mit ihren grandiosen Tänzern und den mittlerweile sechs Choreografien sind sie auf der ganzen Welt zu Gast. Verständlich, dass ihr besonderer Stil abfärbt.
Und da die Performance „Boids“ von Moritz Ostruschnjak eine futurologische ist, kann die Zukunft gerne kommen. Denn schlecht sieht sie ganz und gar nicht aus, vor allem nicht, wenn man Kostüme von Renate Ostruschnjak trägt und im richtigen Licht von Tanja Rühl steht. Zwar tauchen die Tänzer manchmal so ganz in Weiß oder Beige gekleidet vollkommen in die neblige Umgebung ein und verschwinden auch mal vor der Wand. Dafür treten sie dann aber umso beeindruckender wieder in Erscheinung.
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