„The Pretty Things“ von Catherine Gaudet
„The Pretty Things“ von Catherine Gaudet

Emotionen im Puls einer Maschine

Die Inszenierung „The Pretty Things“ aus Montreal als Auftaktveranstaltung des Dance Festivals in München

Der Einblick in die menschliche Seele gelingt der frankokanadischen Choreografin Catherine Gaudet durch energetische und unerbittliche Körperlichkeit.

München, 15/05/2023
Von Natalie Fischbeck

Kann der Mensch innerhalb eines Systems einer taktgebenden Maschine seine eigene Individualität ausleben oder wird er Teil dieses einheitlichen Mechanismus?
Mit dieser Frage beschäftigt sich das Werk „The Pretty Things“ der frankokanadischen Choreografin Catherine Gaudet, welche sich durch ihre einzigartige und zeitgemäße choreografische Sprache auszeichnet. Ihr Stück regt in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken über den Individualitätscharakter der einzelnen Menschen innerhalb der Gesellschaft an und erschafft dadurch einen Tanzabend voller verschiedener Gefühle und Emotionen. Durch die unerbittliche und energetische Körperlichkeit der Tänzer*innen gewährt sie dem Zuschauer einen tieferen Blick in die menschliche Seele. Ihre moderne Auffassung befreit den Tanz von der narrativen Linie und trägt zur Entwicklung der zeitgenössischen Tanzszene bei. Sie erschafft dadurch einen Raum, in dem sie sich mit zukunftsorientierten Fragen auseinandersetzt, welche die Ängste und Veränderungen der heutigen Gesellschaft thematisieren.

Im Takt eines Metronoms

Die Choreografie „The Pretty Things“ umfasst ein Ensemble von fünf Tänzer*innen, welche sich wie im mechanischen und regulierten Takt eines Metronoms bewegen. Die Darstellenden stehen wie versteinert auf einer leeren Bühne, welche sich durch ihr einheitliches und dezentes Lichtdesign auszeichnet. Hugo Dalphond richtet durch seinen Einsatz des Lichts die Aufmerksamkeit alleine auf die ausdrucksstarken Bewegungen der Protagonist*innen. Durch ihre enganliegenden und einfarbigen von hellgrau bis beige gestalteten Anzüge wird der Fokus insbesondere auf die Bewegungen, Gesten und Ausdrücke der Tänzer*innen gelenkt. Die minimalistische Gestaltung der Kostüme von Marilène Bastien erschafft dadurch das Gefühl einer einheitlichen Gruppe.

Choreografische Sprache zur Vermittlung von Individualität und Gemeinschaft

Bei vollkommener Stille startet eine einzelne Tänzerin, sich mit minimalen Gesten auf der Stelle zu bewegen. Reduziert auf die minimalistischen Ausführungen von Armen und Beinen wiederholt sie die einzelnen Abläufe, was die Bewegungswechsel nur schwerlich erkennen lässt. Während die anderen regungslos bleiben, schwingt und pendelt die Tänzerin im durchgängigen Rhythmus eines Uhrwerks.
Im Laufe der Zeit folgen die anderen Tänzer*innen in ihrem individuellen Stil dem mechanischen Drang und werden währenddessen von verschiedenen Frauenstimmen begleitet, die aus einzelnen Tönen einen regelmäßigen Rhythmus vorgeben. Durch die Musik von Antoine Berthiaume wird der Rhythmus die Grundlage für das mechanische System der Maschine, welchem sich jeder einzelne Tänzer an seinem Platz in minimalen Bewegungen anschließt. Die Bewegungsabläufe wirken dabei wie ein Alphabet, welches durch die einzelnen Motive und Elemente der Tänzer*innen in einem unübersichtlichen System durch ihre Körper wie eine Art Selbstgespräch ausdifferenziert wird.

Gefangen in der Maschine

Die fünf Tänzerinnen verschmelzen allmählich zu einer Einheit, ihre Bewegungen synchronisieren sich und formen eine einheitliche Front – ein Mechanismus, der sie bis zum Ende der Choreografie miteinander verbindet. Obwohl jeder von ihnen die Bewegungen auf seine eigene Art ausführt, scheinen sie dennoch gefangen in der rhythmischen Maschine. Diese Gefangenschaft erzeugt ein Gefühl von zwanghafter und neurotischer Dringlichkeit in ihrer Ausführung, die immer wieder von wilden und unkonventionellen Elementen sowie lautem Gesang und Rufen unterbrochen wird. Trotz ihrer Bindung an die Maschine lösen sich die Bewegungsmotive auf und werden zu einer individuellen, konträren und ehrlichen Körpersprache. Mit ihrer Individualität und Willensstärke schaffen es die Tänzer*innen mühelos, ihre Einzigartigkeit immer wieder zum Ausdruck zu bringen und sich dennoch dem System der Maschine zu unterordnen.

Nach einer Weile beschleunigt sich das Tempo und die energiegeladene Gruppe wirkt wie eine tickende Uhr, die sich um ihre eigene Achse dreht. Durch vereinzelte laute Kommandos bringen sie ihre letzte gemeinsame Kraft auf und unterstützen sich gegenseitig. Doch dann geschieht etwas Überraschendes, die Tänzer*innen fangen an sich behutsam zu berühren und entdecken eine bisher unerkannte Nähe und Verbindung zueinander. Erst jetzt wird dem Publikum vor Augen geführt, dass die Einsamkeit in der Gruppe sie bisher gehindert hatte, echte Verbindungen zuzulassen.
Doch Gaudet treibt die Gruppe weiter an und lässt sie noch mehrere Gänge hochschalten. Die Musik wird lauter und rockiger, bis die Energie schließlich in Death Metal übergeht. Am Ende verstummt die Musik wie zu Beginn und zurück bleibt eine mit Schweißperlen bedeckte Gruppe, die sich weiter im Takt des Metronoms bewegt, bis sie zum Stilstand gelangt.

Die meditative Kraft der wiederholenden Bewegungen

Durch die wiederholenden Bewegungsmotive wird das Publikum in einen meditativen Bann gezogen, welcher die Bewegungswechsel nur schwerlich erkennen lässt. Die Ausführungen erscheinen wie der monotone Alltag vieler Menschen, welche sich in ihrer täglichen Routine gefangen fühlen und dadurch selber zum Schöpfer der ermüdenden Maschine werden.
Zudem kreiert Gaudet ein hypnotisches und meditatives Werk, das von ihr selbst als kathartisch beschrieben wird. Die Choreografie ermöglicht es, psychische Konflikte und innere Spannungen durch eine emotionale Reinigung loszulassen. Die eigenwilligen und grotesken Ausbrüche der Tänzer*innen aus der geschlossenen Linie und der sich ständig wiederholenden Bewegungen schaffen Momente der Befreiung aus ihrer zwanghaften Einheitlichkeit im System. Doch trotz der verkörpernden Monotonie und Einheitlichkeit der Maschine entsteht ein Gefühl der Gemeinschaft und Verbundenheit. Die Tänzerinnen helfen sich gegenseitig lautstark den Takt zu halten und ihr System und ihre laufende Maschine voranzutreiben. Des Weiteren wirft der Titel des Stücks „The Pretty Things“ einige Fragen auf, da die individuellen Bewegungen nicht unbedingt dem Schönheitsideal des klassischen Tanzes folgen, sondern sich vielmehr einer freien und extravaganten Tanzsprache bedienen.

Gemeinsame Distanz

Das Stück entwickelte sich während der Corona-Pandemie und macht auf die soziale Komponente aufmerksam. Die Isoliertheit und das Gefühl der Einsamkeit zu Beginn werden durch die Distanz der Tänzer*innen zueinander verdeutlicht. Im Laufe des Tanzes rücken die Tänzer*innen jedoch wieder näher zusammen und bilden zum Schluss eine Einheit. Die Menschen waren während der Pandemie zwar sozial getrennt, sind auf diese Weise aber doch zusammengerückt, um wie eine Maschine als Gesellschaft zu funktionieren. Dieser Prozess des Zusammenrückens trotz faktischer Distanz wird durch den beschriebenen Verlauf des Tanzes verdeutlicht und dem Publikum auf einfache und doch eindrückliche Weise dargestellt.
Im Hinblick darauf erschafft Gaudet ein facettenreiches Stück, welches die Zuschauer*innen zu den unterschiedlichsten Gefühlen anregt. Sie richtet ihren zeitgemäßen Blick nicht nur auf die Loslösung und Befreiung des Individuums aus dem sozialen System, sondern auch auf die Notwendigkeit einer intakten Gemeinschaft, welche dennoch kritisch bleibt. Trotz der kleinen Veränderung der Besetzung auf Grund der nur temporären Teilnahme einer Tänzerin behält das Werk seinen ausdrucksstarken und einzigartigen Charakter bei, was durch den intensiven Schlussapplaus deutlich wird.

Dieser Text entstand im Rahmen einer Kooperation mit Studierenden des Instituts für Theaterwissenschaft an der LMU unter der Leitung von Anna Beke.

Kommentare

Noch keine Beiträge