Tanzbüro München: Veronika Heinrich, Miria Wurm, Tina Meß, Simone Schulte-Aladag
Tanzbüro München: Veronika Heinrich, Miria Wurm, Tina Meß, Simone Schulte-Aladag

Freiräume zur Persönlichkeitsentfaltung

Simone Schulte-Aladag, Co-Leitung des Tanzbüros München und des THINK BIG! Festivals

Access to Dance, das Tanzportal für Bayern, befragt Tanzschaffende in Bayern zu ihrer Arbeit während der Pandemie. Simone Schulte-Aladag unterstützt freischaffende Münchner Künstler*innen dabei, sich im Dschungel der Corona-Hilfsprogramme zurecht zu finden. Zugleich plant sie das THINK BIG! Festival im Juli, das sich an ein jüngeres Publikum richtet und verstärkt den öffentlichen Raum erobern wird.

München, 27/02/2021
Frau Schulte-Aladag, im Rahmen Ihrer leitenden Funktion beim Tanzbüro München setzen Sie sich für die Bedürfnisse Münchner Tänzer*innen und Choreograf*innen ein. Vor welchen Schwierigkeiten stehen diese aktuell besonders?

Durch die Pandemie wurde erstmals in größerem Ausmaß auf die prekäre Situation vieler Tanz- und Theaterschaffender aufmerksam gemacht. Die Unterstützung in Form von Beratung und Austausch ist jetzt wichtiger als je zuvor. Bei den selbständigen Tanzschaffenden besteht eine große Unsicherheit in Bezug auf die von Land und Bund angebotenen Corona-Hilfsprogramme. Es ist auch wahnsinnig schwer, alleine einen Weg durch den Dschungel der Programme zu finden. Die Erfahrung aus dem ersten Lockdown, als es hieß, man solle als Voraussetzung für die Auszahlung die Betriebskosten angeben, hat viele Künstler*innen nachhaltig irritiert, und viele haben daraufhin die nachfolgenden Diskussionen und Änderungen der Bedingungen nicht mehr verfolgt. Großen Teilen der Szene fehlt hier meines Erachtens ein gesundes Selbstbewusstsein für den Stellenwert ihrer Arbeit. Dies versuchen wir auch in der Beratung zu thematisieren.

Mit welchen Herausforderungen sehen Sie sich selber in Ihrer beratenden Tätigkeit bzw. Hilfestellung den Künstler*innen gegenüber konfrontiert?

Zusammen mit meinen Tanzbüro-Partnerinnen Tina Meß und Miria Wurm sowie den Kolleginnen vom Theaterbüro, mit denen wir sehr eng zusammenarbeiten, mussten wir uns innerhalb kürzester Zeit über die neuen Förderprogramme und ihre Zugangsvoraussetzungen informieren. Insbesondere der Dachverband Tanz Deutschland hat hier prompt reagiert und mit uns und anderen Netzwerken in Deutschland vor Ausschreibungsbeginn Informationsgespräche zum Neustart-Förderprogramm Distanzen geführt, damit wir die Tanzschaffenden kompetent beraten und auch Feedback an den Dachverband zurückspiegeln können. Wir haben uns zudem frühzeitig mit den Verbänden (Netzwerk Freie Szene München, Verband Freie Darstellende Künste Bayern, BBK u. a.) zusammengeschlossen, um gemeinsam das Bayerische Kultusministerium über die Anpassung der Förderkriterien des Soloselbständigenprogramms zu beraten. Das Staatsministerium war erstmals offen für den fachlichen Input.

Setzen die variierenden Restriktionen bei den Tanzschaffenden auch positive Impulse frei und dienen als Inspiration? Wie erleben Sie das im Austausch mit den Künstler*innen?

Ja, viele sind sehr kreativ mit der Situation umgegangen, setzen sich mit den neuen Medien auseinander, besuchen online Fortbildungen, schließen sich mit Filmschaffenden zusammen usw. In der Tanzvermittlung, zum Beispiel, gibt es, angeregt durch den Bundesverband Aktion Tanz und eine Tanzpakt Reconnect (Neustart)-Förderung, einen tollen Austausch zu digitalen Formaten. Wöchentlich finden Online-Sessions statt, und es werden neue digitale Formate gemeinsam erprobt und reflektiert. Jetzt steht natürlich ein Veranstaltungsstau in den Theaterhäusern bevor. Die meisten Künstler*innen möchten doch das Liveerlebnis aufrechterhalten, und nicht nur ausschließlich im digitalen Raum unterwegs sein. Die neuen digitalen Möglichkeiten und Formate haben aber auch viele Diskurse angestoßen, und diese können von viel mehr Menschen wahrgenommen werden. Es ist klar, dass es sich dabei um einen wichtigen Themenkomplex handelt, mit dem sich Künstler*innen ja auch nicht erst seit dem vergangenen Jahr auseinandersetzen. Allerdings wurde die Frage, welche digitalen Formen künstlerisch Sinn machen, und welche Projekte besser live gezeigt werden sollten, durch die Pandemie noch stärker befeuert. Der Austausch von Wissen hat allerdings ziemlich gut funktioniert. So konnte ich selbst von einigen Angeboten in Form von Webinaren oder Online-Konferenzen von Kulturinstitutionen in Deutschland und anderen Ländern profitieren und mich in unterschiedliche Themen einarbeiten. Natürlich vermisst man hier schmerzlich den zwischenmenschlichen Austausch und die vertieften Diskussionen.

Die Pandemie hat in der Tanz- und Kunstwelt zwangsläufig zahlreiche neue Formate entstehen lassen. Welche künstlerischen Anpassungen werden Ihrer Meinung nach auch nach Corona bestehen bleiben?

Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten. Wahrscheinlich werden sich digitale Formate und die Bespielung des öffentlichen Raums stärker etablieren. Das kann auch einen niedrigschwelligeren Zugang zu Kunst bedeuten. Kunst und Kultur befinden sich in einem Transformationsprozess, das Zusammenleben, die Gesellschaft verändern sich. Soziale Ungleichheiten wurden durch die Pandemie stärker ans Licht gebracht. Das volle Ausmaß der Auswirkungen und Veränderungen werden wir allerdings erst in einigen Jahren erkennen können. Auf der anderen Seite gab und gibt es auch viel Solidarität unter Kunst- und Kulturschaffenden, und es existiert eine neue Art der Solidarität des Publikums gegenüber den Künstler*innen, was man auch an einigen Spendenaktionen erkennen kann. Auch in der freien Tanzszene ist eine neue Solidarität spürbar. Wir sind mit dem Tanzbüro Teil der "Initiative Tanzhaus", einem Zusammenschluss von Münchner Akteur*innen aus der freien Tanzszene, der seit September 2019 besteht. Die beteiligten Akteur*innen (Iwanson International, Tanzbüro München, Bad Lemons Project, HIER=JETZT Plattform, TanzQuelle, Playground Anna Konjetzky und Fokus Tanz) haben auch in den vergangenen Monaten gemeinsam an einer Konzeption für ein Tanzhaus in München gearbeitet, die wir auch in Zukunft weiterverfolgen werden.

Seit langer Zeit setzen Sie sich intensiv für den künstlerischen Bildungsauftrag im Tanz ein, u.a. als Co-Leitung von Fokus Tanz I Tanz und Schule e.V. Welche Veränderungen hat die Pandemie in Bezug auf Ihre eigene Arbeit sowie generell auf dem Gebiet der kulturellen Bildung mit sich gebracht?

Wir haben bei Fokus Tanz sehr früh den Dialog mit den Lehrkräften gesucht und uns sehr schnell auf die neue Situation umgestellt. Meine Kolleginnen Andrea Marton, Eva Seidl und Ute Schmitt haben Fortbildungen für Tanzvermittler*innen und für Lehrer*innen gegeben: Wie können wir mit den Kindern mit Abstand tanzen, welche kleinen Bewegungspausen können im Klassenzimmer gemacht werden? usw. Die Kolleginnen haben Padlets mit Filmen und Bewegungsaufgaben erstellt und an die Schulen geschickt. Sie unterrichten im Lockdown digital. So haben wir teilweise nicht nur die Schüler*innen erreicht, sondern auch ihre Geschwister und Eltern, die alle in ihrem Wohnzimmer getanzt haben. Ich denke, wir sind erfinderischer geworden und haben gelernt, flexibel zu reagieren. In unserem Team war von vornherein klar, dass wir in der Krise Alternativen finden müssen und uns nicht der Situation ausliefern.

Die Pandemie stellt für alle eine gewaltige Herausforderung dar – für junge Menschen ganz besonders. Was brauchen Kinder und Jugendliche in dieser Zeit, was kann ihnen Halt und Zuversicht bieten? Ich denke hier auch an Ihr THINK BIG! Festival, das sich speziell an ein junges Publikum richtet. Können Sie das in diesem Jahr realisieren?

Eine Studie zeigt, dass jedes dritte Kind in Deutschland durch die Folgen der Pandemie psychisch belastet ist (Copsy Studie, Zeit, 10.2.21). Soziale Isolation, Kontakte nur auf Distanz, eingeschränkter Bewegungsradius und vermehrte Zeit im digitalen Raum führen zu noch nicht absehbaren psychischen und physischen Schäden in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Insbesondere Kinder aus sozial schwachen Familien sind betroffen. Mehr denn je brauchen Heranwachsende jetzt freie Räume, Angebote zur Persönlichkeitsentfaltung und zur non-formalen Bildung. Gemeinsam mit unseren Kolleg*innen deutschlandweit überlegen wir, wie Kulturschaffende junge Menschen jetzt erreichen können. Im Sommer wollen wir den öffentlichen Raum als Chance begreifen und mit unserem diesjährigen Festival THINK BIG! unter dem Motto „Reach out“ dazu beitragen, mehr Menschen an unterschiedlichen Orten zu erreichen. Wir bieten zusätzlich zum Bühnenprogramm maßgeschneiderte Angebote für unterschiedliche Gruppen an. Da das Festival im Hochsommer in den letzten Wochen des Schuljahres stattfindet, planen wir hier ortsspezifische Performances auf Plätzen und in Parks, Vorstellungen, Parcours, Audiowalks in Schulgebäuden, Performances in Schulhöfen, Klassenräumen usw.

Welchen Einfluss hat die Pandemie auf Ihr privates Leben? Was vermissen Sie am meisten?

Ich habe das Glück, dass ich von zu Hause aus, aber auch im Büro arbeiten kann, und dass meine Kinder mit der Schule fertig sind, und wir kein Opfer von Homeschooling sind, sondern im Gegenteil, auch viel schöne Familienzeit erleben konnten. Andererseits habe ich meine Eltern, die in NRW leben, seit Oktober nicht mehr live gesehen. Ich habe kaum Freund*innen getroffen. Ich vermisse diese Kontakte, und ich vermisse natürlich Tanz, Theater, Konzerte und Ausstellungsbesuche, Reisen und den Austausch mit Kolleg*innen.

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