"So nah und doch so fern" von Dominique Dumais
"So nah und doch so fern" von Dominique Dumais

Starke Frauen

Dominique Dumais, Ballettdirektorin am Mainfranken Theater Würzburg

Access to Dance, das Tanzportal für Bayern, befragt Choreograf*innen in Bayern zu ihrer Arbeit während der Pandemie. Dominique Dumais versucht den künstlerischen Winterschlaf mit Leben zu füllen – dank kreativer Ateliers, Reflexionsarbeit und weiterbildender Forschung sehr erfolgreich.

Würzburg, 07/02/2021
Frau Dumais, Sie schrieben einmal, Ihre Lieblingsheld*innen der Wirklichkeit seien „alle starken Frauen, die den Weg geebnet haben“. Haben Sie eine spezielle Lieblingsheldin in dieser Zeit der Pandemie für sich entdeckt?

Die Pandemie ist für alle eine Zeit des Nachdenkens. Ich habe über meine Vergangenheit und meine Familie nachgedacht, insbesondere über meine Mutter, die diese Welt im Alter von 48 Jahren verlassen hat. Ich bin jetzt 51 und sehr dankbar für das Leben, das ich habe. Meine Mutter war Teil der Stillen Revolution in Quebec in den 60er Jahren. Nicht, weil sie sich aktiv politisch engagiert, sondern eher, weil sie darauf bestanden hatte, ihren tiefsten Überzeugungen zu folgen, trotz der vielen sozialen Widrigkeiten dieser Zeit. Meine Mutter war eine Einwanderin der ersten Generation aus Haiti. Sie war eine von nur einer Handvoll Schwarzen, die in den frühen 1960er Jahren in Lac St-Jean, Quebec, lebten. Sie war gebildet und bestand darauf, einen Beruf auszuüben, zu einer Zeit, als Frauen gesagt wurde, sie sollten ihre Karriere aufgeben und zu Hause bleiben, sobald sie verheiratet waren. Wie viele Frauen zu dieser Zeit heiratete sie jung. Leider funktionierte die Ehe nicht. Als haitianische Einwanderin, als Frau mit einem anderen kulturellen Erbe, muss es in einer konservativen und erdrückend religiösen Gesellschaft damals viel Mut erfordert haben, sich zu behaupten, indem sie ihre unglückliche Ehe verließ, damit ihre eigenen Bedürfnisse wahrnahm und ihren persönlichen Überzeugungen folgte. Dafür musste sie sicherlich einen hohen Preis zahlen. Doch durch ihre Tapferkeit ebnete sie den Weg für mich, meine Schwestern, meine Tochter und all die jungen Frauen, die ihren Weg während ihrer Jahre als Lehrerin kreuzten.

Inwiefern stellt die Pandemie Sie in Ihrer Kunstform Tanz vor Herausforderungen? Mit welchen Problemen kämpfen Sie?

Eine Tanzkompanie ist eine eng verflochtene Gemeinschaft. Insofern war es für das Ensemble eine Herausforderung und auch traurig, das Social Distancing zu akzeptieren, das zum Schutz der Gesundheit aller während dieser Pandemie notwendig war. Unsere Arbeit beinhaltet normalerweise viel Körperkontakt. Und obwohl es eine interessante Herausforderung war, Ideen, Themen und Konzepte zu erforschen, die ohne echten Kontakt auskommen, vermissen wir alle die kreative Kraft, die Bilder und die thematischen Erkundungen, die durch Duette, Trios und eng verwobene Gruppenchoreografien hervorgerufen werden. Der Mensch braucht Berührung! So sind unsere Gehirne konzipiert. Es ist ein evolutionäres Bedürfnis, ein essentieller Faktor für die Entfaltung und das Überleben eines Menschen. In der Tanzkompanie am Mainfranken Theater haben wir in den letzten Monaten auch darüber gesprochen, was es bedeutet, unsere Arbeit aktuell nicht mit dem Publikum teilen zu können. Denn letztlich geht es im Theaterleben um das Aufführen. Es ist ein wesentlicher Teil unserer künstlerischen Arbeit. Umso mehr freuen wir uns schon auf das Wiedersehen mit unserem Publikum.

Setzen die variierenden Restriktionen – Kontaktbeschränkungen, angepasste Trainings- und Probensituationen – auch künstlerische Impulse frei oder dienen sogar als Inspiration?

Schon zu Beginn der Einschränkungen im März letzten Jahres war es mir wichtig, dass es in dieser Zeit des Stillstandes auch um weiterbildende Forschung und kreative Erkundungen gehen soll. Den Tänzer*innen wurden kreative Aufgaben für ihr „Heimstudio“ zugeteilt. Zudem trafen wir uns oft zu Videokonferenzen, um über verschiedene Aspekte unserer Arbeit und unserer Kunstform zu diskutieren. Die Tänzer*innen waren auch mit mehreren Online-Projekten für das Theater sehr aktiv. In der aktuellen Saison können wir Gott sei Dank unter Berücksichtigung der Abstandregeln im Studio weiterarbeiten. Wir bereiten unsere neuen Stücke soweit vor, dass die Premieren bereit sind, wenn wir wieder auftreten können. Zusätzlich mache ich viele Workshops mit den Tänzer*innen, um ihre Fähigkeiten als Künstler*innen, Tänzer*innen und Interpret*innen weiterzuentwickeln, etwa durch anatomische Studien, angeleitete Improvisation oder Übungen zu szenischer Präsenz. Das war für uns alle inspirierend und regte auf neue Weise zum Nachdenken an. Wir machen das Beste aus diesem künstlerischen Winterschlaf, um unseren Geist, Körper und unsere Vorstellungskraft für weitere Entdeckungen und Entwicklungen zu stärken. Ich bin sehr dankbar in diesen schwierigen Zeiten diese Möglichkeit zu haben.

Haben Sie neue künstlerische Formate entwickelt, die sonst nicht entstanden wären?

Bei unserer nächsten und ersten Premiere in dieser Spielzeit, „So nah und doch so fern“, ging es darum, Berührung ohne tatsächlichen Kontakt zu evozieren. So entstand ein Bühnenbild aus Plexiglaswänden, das letztlich vor allem von Sehnsucht und Entfremdung erzählt. Dennoch gibt es eine enorme Menge an Zärtlichkeit, Empathie und körperlicher Spannung, die zwischen den Tänzer*innen in dem einen Zentimeter Abstand der transparenten Oberfläche entstehen. Die Frage war und ist: Wie berühren wir uns, ohne uns zu berühren? Interessant ist auch das wiederholte Erforschen der choreografischen Sprache, die auf nur einen Körper im Raum beschränkt ist. Wie 'partnert' man sich selbst? Wie kann der Boden, der Raum, die Wand zum Partner werden? Wie erzeugt man eine dynamische physische Spannung im Raum mit nur einem oder wenigen Körpern? usw. – alles interessante Fragen, die es zu erforschen gilt. Ich habe diese Herausforderung genossen, aber jetzt bin ich auch wieder bereit für Körperkontakt!

Welche künstlerische Anpassung werden Sie auch nach der Pandemie beibehalten?

Ich werde versuchen, die lebhaften künstlerischen Gespräche, die ich während dieser Pandemie regelmäßig mit dem Ensemble führen konnte, weiter zu fördern. Ich wurde zudem daran erinnert, welche Vorteile es hat, den Tänzer*innen und mir mehr Raum für künstlerische Erkundungen zu geben, die an kein bestimmtes Projektziel oder eine Deadline gebunden sind. Wenn wir gleichzeitig wieder Werke schaffen und aufführen, wird das natürlich eine Herausforderung für uns sein, aber ich glaube, dass regelmäßige Workshops und kreative Ateliers unseren Aufführungen und künstlerischen Prozessen nur zugutekommen werden.

Die Tanzwelt lebt derzeit von Live-Streams, Video-Konferenzen, Online-Trainings etc. Wieviel analoge Wirklichkeit braucht der Tanz noch in der Zukunft?

Ich glaube wirklich, dass nichts das Live-Theater ersetzen kann. Genauso wie eine Zoom-Dinner-Party oder ein -Meeting niemals die Anwesenheit von Kolleg*innen, Freund*innen und geliebten Menschen ersetzen wird. Das Theater ist ein Ort für gemeinschaftliches 'rassemblement'. Wir sehnen uns danach, in der Gegenwart anderer zu sein. Die Anstrengung, die Impulse von Tänzer*innen unmittelbar zu spüren, das Atmen zu hören, auch die Schönheit der Anstrengung zu sehen, die Sehnsucht in einer Vielzahl von subtilen Nuancen und Verschiebungen des Ausdrucks, der Triumph der Tänzer*innen, Schauspieler*innen, Sänger*innen, ist eine inspirierende und manchmal sogar eine katalytische Erfahrung. Darüber hinaus ist das Live-Publikum selbst ebenfalls ein wichtiger Mitspieler für uns alle, die an der Entstehung eines Werkes beteiligt sind, damit die Erfahrung einer Aufführung vollständig ist und vollendet werden kann. Tanz auf der Leinwand hat seinen Platz, aber das ist eine ganz andere Kunstform, und ich glaube, dass es auch als solche behandelt werden muss. Er wird nie die gleichen Bedürfnisse erfüllen, wie der Live-Tanz.

Welchen Einfluss hat die Pandemie auf Ihr privates Leben? Was vermissen Sie am meisten?

Ich vermisse Umarmungen, Händeschütteln, nahes Lachen, Cafés, ein gutes Essen im Freien, Gesichter ohne Masken zu sehen, keine Angst zu haben oder besorgt zu sein, Fremden nahe zu kommen, zu reisen, Freunde und Familie zu sehen, Leute zu uns nach Hause einzuladen und natürlich ins Theater zu gehen. Ich denke, es war besonders schwierig für die jüngere und ältere Generation. Meine Tochter musste zu Hause unterrichtet werden und wurde mehr oder weniger von ihrem sozialen Netz abgeschnitten. Wir vermissen es, unsere Familie in Kanada zu besuchen. Gott sei Dank gibt es das Internet, aber wie ich bereits erwähnt habe, ersetzt nichts den realen Kontakt.

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