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Regensburg
LEIDENSCHAFTLICH KNUTSCHEN
Die Regensburger Tanztage mit "The Brazil/Israel Project"
Ein wenig Irritation, ein wenig Belustigung und ganz viel Beifall. Kurz gefasst, kann so die Reaktion des Publikums auf den vorletzten Programmpunkt der diesjährigen Regensburger Tanztage, „The Brazil/Israel Project“, umrissen werden. Drei Kompanien aus verschiedenen Regionen des riesigen Brasiliens stellten Tanzstücke vor, die sie mit drei jüngeren israelischen Choreografen erarbeitet und erst wenig zuvor in ihrer Heimat uraufgeführt haben.
Anfänglich liefen sich die fünf Tänzer der Companhia Eliane Fetzer aus dem südbrasilianischen Curitiba in „Feed“ (Choreografie: Ella Rothschild) langsam warm. Dabei hatten sie die Zuschauer fest im Blick. In warmer Alltagskleidung und zu geräuschvoller Musik aus Elektronik und Streichern schufen sie eindrucksvolle Bilder zu allgemein menschlichen Erfahrungen wie Tod, Ablehnung, Trauer, Anziehung, Neugier und Angst. Bilder, die emotionale Affekte evozieren mussten. Vieles ließ sich dabei nicht nur in den offensiven Haltungen der fünf Tänzer und ihren Bewegungen sondern auch in Mimik und in den mit der Stimme erzeugten Klängen ablesen. Eine Tote wurde einmal heftig schluchzend beweint und im nächsten Moment grausam belacht. Aus einer kollektiven Abwendung entwickelte sich ein fauchendes Monster. Gruppendynamik, konkrete Bilder die wie auf die Bühne transformierte Gemälde wirken und der unmittelbare emotionale Ausdruck schufen kraftvolle komische und groteske, manchmal packende und erschreckende Eindrücke.
Dagegen löste das lässige Spiel aus Beobachtung und angedeutetem Kampf, Stolpern und zärtlichem Ringen der Truppe Entre Nos de Cricacao aus dem nordöstlichen Natal bei einigen Zuschauern zwiespältige Gefühle aus. „Chamada“, ein Moment im Kampfsport Capoeira, in dem zum gemeinsamen Gehen aufgefordert wird, des Choreografen Ofir Yudilevitch erschien manchen als zu lang, anderen als zu improvisiert und im Ablauf wie in den artistisch-gymnastischen Bewegungen zu gleich. Tatsächlich hat Yudilevitch aus der durchaus interessanten Idee zu wenig gemacht. Sie war eigentlich nach einigen Minuten auserzählt. Was dann noch eine Viertelstunde lang folgte, waren Wiederholungen, sich selbst reproduzierende Vervielfältigungen, ohne dass eine Entwicklung, ein Höhepunkt oder gar so etwas wie ein Plot zu erkennen gewesen wäre. Das durchaus ansehnliche Niveau der ebenfalls fünfköpfigen Gruppe erschien in diesem Zusammenhang – manches wirkte, böse formuliert, wie eine bessere Turnstunde – noch ausbau- und entwicklungsfähig.
Nach der Pause entwickelte die Companhia Municipal de Danca aus Porto Alegre die dynamische und physisch fordernde Choreografie „Beijo“ auf einem anderen kulturellen Hintergrund. Archaische Rituale und die musikalisch-tänzerische Tradition der südmarokkanischen Gwana treffen darin auf brasilianische Rhythmen und Wortbeiträge auf Portugiesisch. Das überwiegend synchron getanzte, kraftstrotzende Spektakel mit effektvoller Lichtführung endete in rituellen Formen. Diese können wie ein litaneiartiges Schuld- oder Glaubensbekenntnis gelesen werden; oder andererseits wie überbordende Selbstliebe, wenn sich die Tanzenden selbst auf allen erreichbaren Stellen hingebungsvoll küssen und lautstark knutschen. Tatsächlich können natürlich unterschiedliche kulturelle Erfahrungen andere Interpretationen hervorrufen. Choreografin Orly Portal schreibt im Programm vom „neuen Gefühl von Existenz und Freiheit“. Doch das ließ sich nicht zwingend aus dieser schweißtreibenden, dreiviertelstündigen Tanzperformance lesen. Die hinterließ letztendlich eher den zwiespältigen Eindruck einer aufgepimpten Folkloreschau, als „die Fesseln von Zeit, Kultur, Geographie und Geschlecht zu lösen“, wie Portal weiter in einer Beschreibung ausführt. Sehr engagiert und mit leidenschaftlicher Hingabe wird eine durchaus unerwartete Thematik getanzt. Auch bei dieser Choreografie bleibt ein Beigeschmack von zu kurz gesprungen.
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