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München
PERSPEKTIVWECHSEL FLÜCHTLINGSDEBATTE
Taigué Ahmeds Tanzstück „Waignedeh/Morgen“
Wie aus weiter Ferne dringt Benno Heisels Musikkollage in den Raum. Mal ist sie lauter, mal leiser. Ein sonores, in sich zerfetztes Symbol aus Gegenwart und Erinnerung. „Waignedeh/Morgen“ des Choreografen Taigué Ahmed, der aus dem zentralafrikanischen Tschad stammt, konfrontiert mit dem Stillstand von Leben. Seit 2005 führt die von ihm gegründete Organisation Ndam Se Na (Gemeinsam tanzen) Tanzworkshops in Flüchtlingslagern im Süden seiner Heimat durch. Der Zuschauer wird – atmosphärisch sehr subtil und unaufdringlich überzeugend – auf eine Reise in ein Camp geschickt, in dem Menschen aus den Kriegsgebieten der Region gestrandet sind.
Die schwarz umrandete Enge von Kammer 3 der Münchner Kammerspiele ist ein gut geeigneter Ort, um sich – Geduld für Wiederholungsschleifen vorausgesetzt – mit dem Stigma, der Verzweiflung und den Hoffnungen Geflüchteter auseinanderzusetzen. Fünf Tänzer (vier aus dem Tschad, einer aus Kamerun) haben dazu Langzeitbetroffene beobachtet und über ihre Gefühle, Sorgen und Wünsche befragt. Nun liegen zerknüllt orangefarbene Plastikplanen am Boden – als wunderbares Allzweckrequisit. Ein Darsteller kringelt sich darauf, ein anderer verpackt ihn und schleppt die Last. Der Dritte legt sich seine Plane nahezu herrschaftlich um die Schultern. Sein Nachbar dagegen trägt sie sorgsam gefaltet überm Arm. Schwindet das Licht, verkriechen und drängen sich alle gemeinsam darunter.
Das auf Einlass wartende Publikum verunsichern in sackartige Kutten verhüllte Gestalten. Befremdlich-futuristisch sind die ausgebeulten Masken mit groß verglasten Gucklöchern. Unter den stoffüberzogenen, stumpfen Hörnern erkennt man Plastikbecher. Ein Outfit für Schutz und unverschuldete Entstellung zugleich. Warum schrecken wir vor ‚Andersaussehenden’ und Fremdem zurück?
Ahmeds choreografische Übersetzung von Erfahrungen aus dauerhaften Unterkunftsprovisorien in getanzte Bilder beginnt mit dem Einzug dieser uniform eigenartigen Wesen. Es dauert nicht lange, und man lernt die einzelnen Seelen darunter kennen: Interpreten mit ausgesprochen individuellen Bewegungsqualitäten. Beeindruckend anzusehen, weil im Mix aus afrikanischen und zeitgenössischen Stilelementen jeder von ihnen sich ganz anders präsentiert. Die Hand an der Hüfte, die gerollte Plane auf dem Kopf visualisieren sie zudem die Tagesarbeit von Frauen.
Taigué Ahmed lässt seine Tänzer immer wieder auch synchron agieren. Dann geben ihre nackten Füße plötzlich den Rhythmus an. Schließlich will man dem ewigen Warten entkommen. Muster und Schema der Choreografie aber bleiben: sich treffen, separieren, Probleme im Zweikampf ausfechten oder sich in kleinen Gruppen gegenseitig aufrichten. Am Ende stimmt erst einer ein bekanntes Lagerlied an, später alle. Besungen wird das Tanzen, das offenbar Kraft verleiht. Im Finale schöpfen nicht nur die Darsteller Mut. Auch das Publikum wird emotional mehr und mehr involviert. Der ‚Funke Hoffnung’ springt über.
„Waignedeh/Morgen“ von Taigué Ahmed wurde am 4. Mai im Tanzhaus NRW (Düsseldorf) uraufgeführt.
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