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München
AUFWÜHLENDES GASTGESCHENK
"Your Passion Is Pure Joy To Me" von Stijn Celis und "Die Folterungen der Beatrice Cenci“ von Gerhard Bohner im Gasteig München
Als neckischer Appetizer des modernen Ballettzweiteiler-Abends diente Stijn Celis‘ „Your Passion is Pure Joy to Me“. Der 1964 im nordbelgischen Turnhout geborene ehemalige Tänzer, Choreograf (seit 1993) und freischaffende Bühnenbildner hatte den locker dahinfließenden 40-Minüter 2009 für das Ballett der Oper Göteborg kreiert. Das Stück wird inhaltlich von verschiedenen Songs des australischen Sängers und Gitarristen Nick Cave getragen. Im Fokus steht die Frage, inwiefern nach erlebten Katastrophen Trost zu finden ist – und wie man mit seinen eigenen Erinnerungen zurechtkommt. Sieben Tänzerinnen und Tänzer schickt Celis – seit der Spielzeit 2014/15 Saarbrückens Ballettdirektor – dafür auf ein weißes Plateau. Erst einen, dann zwei – gefühlig jede Bewegung, wie in Zeitlupe, auskostend. Wenig später formieren sich zum Song „Love Letters“ drei Paare. Die Übergänge von Gruppen zu Solisten oder Paaren bleiben im ständigen Fluss.
Einerseits verbiegen und verzerren die Tänzer sich im Raum. Andererseits scheint es, sie werden von ihrem Innersten heraus bewegt. Selbst wenn einige von ihnen kurz miteinander interagieren – jeder bleibt doch stets bei sich. Auf diese Weise entfaltet sich mit der Zeit die hypnotische Wirkung eines Perpetuum mobile, dem man nie ganz auf die Schliche kommt, wer wann, aus welchem Grund und für wie lange ins Aktionszentrum der Bühne gelangt. Nachteil ist, dass unwillkürlich auch die eigenen Gedanken zu wandern beginnen…
Grausiges Highlight am 4. und 5. April im Carl-Orff-Saal des Münchner Kulturzentrums Gasteig: Gerhard Bohners 1971 in der Akademie der Künste in Berlin uraufgeführte „Die Folterungen der Beatrice Cenci“. Acht Männer bestimmen hier mit harten Gesten und rücksichtslosem Dominanzverhalten eine Choreografie, die dank Unterstützung des Tanzfonds-Erbe-Projekts im Mai 2017 am Saarländischen Staatstheater seine Wiederaufnahmepremiere feierte – nach über 25 Jahren Spielpause!
Der Stoff ist historisch motiviert und greift auf die Hinrichtung einer 22-jährigen römischen Patrizierin zurück, die 1598/99 mit ihren Brüdern und der Stiefmutter des Vatermords angeklagt wurde. Bohners Tanzadaption zu scheppernd-dissonanter Musik von Gerald Humel (vom Band) führt schonungslos sowohl die im Privaten stattfindenden Vergewaltigungen als auch das Quälen der inhaftierten jungen Frau innerhalb eines sich absenkenden Käfigs aus Stangen und Seilen drastisch vor Augen.
Das Bildprogramm ist beklemmend archaisch. Rüde wird Beatrices Gesicht zwischen Hände gepresst, die bestimmen, was ihr Blick erfassen soll. Als sich Zuzana Zahradníková (die von 1999 bis 2016 im Ensemble des Bayerischen Staatsballetts tanzte) in die Schlaufen an der Decke ihrer Zelle hängt, vermisst man jedoch das stumme Schreien des gefolterten Körpers nach Befreiung und Gerechtigkeit.
Freilich ist Erinnerung bisweilen trügerisch. Bei der ersten Begegnung mit dem Werk fühlte man sich aufgewühlt und befremdet. Irgendwie überwältigt; so ähnlich muss es wohl den Zuschauern und enthusiasmierten Rezensenten der Uraufführung ergangen sein – zu einer Zeit, als Gewalt noch kein permanent auf Bühnen, im Kino und Fernsehen ausgeschlachtetes Thema war. Das gelbe Kleid der Mörderin trug damals die junge Ballerina Tina Kay Bohnstedt, frischgebackene Absolventin der Münchner Ballettakademie.
Bohners tanzgeschichtlich wichtiges Signaturwerk, das immer wieder beinahe reigenhaft Facetten von Brutalität ausstellt, hatte das Ballett der Bayerischen Staatsoper bereits 1972 ins Repertoire übernommen. Konstanze Vernon interpretierte die durch familiäre sexuelle Übergriffe und im Gefängnis misshandelte Titelpartie. Als Ballettdirektorin verantwortete sie dann 1990 – noch zu Bohners Lebzeiten – eine Neueinstudierung.
Die saarländische Rekonstruktion übernahm die Choreologin Cherie Trevaskis auf Grundlage jener Notation, die sie 1989/90 anlässlich der zweiten Münchner Einstudierung unter Bohners Leitung anfertigte. Ihr zur Seite standen Ivan Liška (bis 2016 Direktor des Bayerischen Staatsballetts) und Colleen Scott. Beide hatten 1973 die Hauptrollen in Düsseldorf getanzt. Gute Voraussetzungen. Eigentlich. Aber der Funke bei diesem Kampf der Geschlechter wollte nicht so recht aufs Publikum überspringen.
Trotz toller TänzerInnen, unter denen Saúl Vega-Mendoza (zuvor Staatstheater Nürnberg Ballett) als erpresserischer Hausverwalter Olimpio überzeugte. Auch Laurend Guilbaud, dessen schlanke Gestalt alle überragte, wusste sich in der Rolle des unerträglich fiesen, macht- und lustbesessenen Vaters, der weder Tochter noch Frau achtet, bestens zu präsentieren. Für die wenigen zärtlichen Gegenakzente holte Pascal Schut als werbender Guerra das Beste aus sich heraus. Alexandra Christian (Stiefmutter) betonte das Fatale ihrer Hilflosigkeit.
So verdichtete sich Bohners 40-Minüter, der vor 47 Jahren durch Gruppenpassagen, Trios, Duette und Soli der Hauptfigur zu einem Spannungsbogen geformt war. Fast unerwartet ersticht Beatrice am Ende ihren Vater. Irritierend bleibt der Moment, wenn sie, am Boden sitzend, den Sterbenden im Schoß ein letztes Mal umarmt. Was für eine Zerrissenheit! Die hätte Zuzana Zahradníková das ganze Stück über noch wesentlich krasser ausdrücken können.
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