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München
EINGESCHRÄNKT UNEINGESCHRÄNKT
„Wahre Sinnlichkeit“ des TANZtheater 50+ beschäftigt sich mit dem Älterwerden.
Das Wort, das keiner der fünf Männer wiederholt, ist Potenz. Sie starren geradeaus und die Frauen blicken fragend in die Runde. Jeder der vorher genannten Begriffe, wie Demenz oder Schmerzen, wurde von der Gruppe aufgegriffen und pantomimisch nachgestellt. Es sind Begriffe, die einem älter werdenden Menschen begegnen und mit denen man umgehen muss. Bei der Potenz jedoch traut sich keiner der Männer, etwas nachzustellen. Das geht nicht mehr, das holt selbst gestandene Männer im Alter ein. Doch hier auf der Bühne in der Pasinger Fabrik, da wird das Körpergefühl und der Sexappeal von damals wieder zum Leben erweckt. Da ziehen die Fünf eine Lederjacke an und setzen eine Sonnenbrille auf. Sie laufen die Bühne ab, kreisen die Hüften, schwingen die Jacken und blicken verführerisch ins Publikum – das tobt wie wild.
Es ist ein schöner Abend, der Spaß macht. Nicht nur dem Publikum, sondern auch und vor allem den TänzerInnen. Die fünf Männer und sieben Frauen im Alter von 50 bis 74 Jahren sind dabei keinesfalls professionelle Bühnenmenschen. Angelika Bardehle, Claudia Brockmann, Sergio Condolo, Richard Gärtner, Jürgen Hangen, Christiane Hensel, Günter Kirchhoff, Annette Koch, Christin Kuhnert, Konrad Mayer, Julia Maxstedt und Corinna Stelzl sind Laien, die teilweise das erste Mal auf einer Bühne stehen. Sie wurden von der Schauspielerin und Choreografin Monika Herzing gecastet und über einen Zeitraum von zehn Monaten immer mittwochs im Probenprozess künstlerisch beaufsichtigt und dirigiert. Von Beginn an war klar, dass es ein wahrhaftiger Abend, ein ehrliches Stück über Sinnlichkeit im Alter werden sollte. Deswegen brachten alle TeilnehmerInnen ihre eigenen Erfahrungen ein und schöpften so aus der entstehenden Interaktion.
Wie hat Monika Herzing diese vielen Gedanken und Biografien geordnet und künstlerisch übersetzt? Um den Senioren tänzerisch-künstlerisch zu begegnen, griff sie unter anderem auf die Tamalpa-Methode zurück. Diese wurde von der mittlerweile weit über 90-jährigen Postmodern Dance-Ikone Anna Halprin entwickelt. Nach einer schweren Krankheit im Alter beschäftigte sich Halprin eingehend mit Tanz als Heilmittel und Bewegungstherapie - mit Atmung, Konzentration und Bewusstseinsöffnung. Die TänzerInnen sollen ihre Ausdrucksmittel kennen und verwenden lernen. Es geht wortwörtlich um 'Wahre Sinnlichkeit', wie es eben auch Monika Herzing mit dem Ensemble TANZtheater 50+ beabsichtigt hat.
Die Teilnehmerin Annette Koch beispielsweise hat während der Pubertät ihre klassische Ballettausbildung abgebrochen und wurde Hebamme. Für „Wahre Sinnlichkeit“ suchte sie ihr noch vorhandenes Bewegungsvokabular, grazil wandelt sie über die kleine Bühne. Günter Kirchhoff arbeitet im Theater eigentlich auf der anderen Seite: als Bühnentechniker. Durch das TANZtheater 50+ hat er einen neuen Zugang zu seinem Körper und zu einer neuen Flexibilität und Koordination gefunden. Wie die meisten anderen im Ensemble auch.
Und das Ensemble ist das, was „Wahre Sinnlichkeit“ auszeichnet. Sie haben Vertrauen aufgebaut in einem Umfeld gegenseitiger Wertschätzung und konnten ohne Scham ihre tänzerischen Erfahrungen machen. Dass das Stück manchmal etwas holprig wirkt und es aus bloßen Szenenabfolgen ohne dramaturgischen Höhepunkt besteht, ist nebensächlich. Jugend- und Alterstanz haben generell eine Bürde, da sie die professionelle Phase des Tanzes, der künstlerisch-kreativ auf höchstem Niveau arbeitet, rahmen. Obwohl Tanzen eine künstlerische Form ist, die keine Sprachgrenzen kennt, kennt sie sehr wohl körperliche. Das wird in „Wahre Sinnlichkeit“ direkt thematisiert.
Herausgekommen sind gespielte, getanzte und abstrakte Szenen. Die Älteste des Ensembles – Christiane Hensel – versucht auf hohen Schuhen zu gehen und muss feststellen, dass es nicht mehr geht. Der Körper ist eingeschränkt, doch an Erfahrung reich ist der Geist. Als Anna Halprin älter wurde, ging es ihr darum, mit Menschen zu arbeiten, die im gleichen Alter sind, ähnliche Erfahrungen gemacht haben und in der gleichen Lebensphase stecken. Sie sagte: „Im Augenblick, wo zwischen Bewegung, Gefühl und Ausdruck eine Verbindung hergestellt wird, entsteht Kunst.“ So auch in „Wahre Sinnlichkeit“.
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