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Nürnberg
SEX IN LÄRMENDER STILLE
„Spring Break – Ein Frühlingsopfer“des Tanzkollektivs PLAN MEE
Wie im Filmklassiker „The Fog – Nebel des Grauens“ wälzt sich eine dicke Nebelbank von der Bühne herunter. Übel riechend kriecht die Trockenmasse über die Sitzreihen nach oben. Publikum und Bühne der Nürnberger Tafelhalle sind gleichermaßen in ein schemenhaftes Licht getaucht. Einzelne Zuschauer beginnen zu husten. Punktscheinwerfer tauchen drei Gestalten in einer Bühnenecke in einen „göttlichen“ Lichtkegel. Eine Erweckung? Ein Auftauchen aus erfahrungsloser Finsternis? Die starken Reize werden durch eine laute Wand heftiger elektronischer Klänge vervielfacht. Wie Splitter bohren sich diese in die Nervenbahnen, dröhnen, grollen und schneiden scharf durch Gehörwindungen.
Sehr langsam beginnen sich die drei Tänzerinnen – bezaubernd: Beatrix Koller, Tess Lucassen und Manon Greiner – aus der Bewegungslosigkeit, dem Stillstand zu lösen. Lautloses Lachen und roboterhafte, eckige Bewegungen evozieren Assoziationsketten von Frankenstein über die Droiden in Star Wars bis zur schwedischen TV-Serie Real Humans mit ihren Hubots (Human Robots). Nach und nach gehen die ruckartigen Bewegungen der in engen Hosen und wattierten Blousons am Platz tanzenden Mädels in fließendere Formen über, aufgepimpt mit laszivem Hüftschwung. Löste der roboterartige Tanz ein unentschiedenes Schwanken zwischen Lachen und zweifelndem Staunen aus, drängte sich nunmehr die Frage auf: Träumen Roboterinnen von Sex?
Die Choreografie „Spring Break – Ein Frühlingsopfer“, eine Koproduktion des Tanzkollektivs PLAN MEE mit der Tafelhalle, nimmt Bezug auf Igor Stravinskys Le Sacre du Printemps. Inhaltlich durch den Zusatz „Frühlingsopfer“ im Titel und programmatisch im Text von Choreografin Eva Borrmann.
Musikalisch hat Zylinderträger Wolfgang Eckert die Musik des Russen durch den Fleischwolf gedreht. Anders gesagt: er hat sie im digitalen Orbit bearbeitet, zerhackt, zerstückelt und verformt. Der „Hauch von Stravinskys Musik“ ist darin, wie im Programm gemutmaßt, allerdings auch in den groovigen Passagen nicht mehr zu spüren. Vielmehr ist es hauptsächlich ein wuchtiger Sound aus Industrie- und Umweltgeräuschen, vorwärts getrieben von bohrenden Grooves. Gelegentlich fühlt man sich an die Einstürzenden Neubauten im Quadrat erinnert, kombiniert mit Indianergeheul.
Mitten im erwachenden Begehren der Tänzerinnen, die Blousons werden stripartig geöffnet, setzt die Musik abrupt aus. In die dröhnend einsetzende Stille hinein artikulieren sie verschämt-stockende Bekenntnisse und Vorstellungen über Liebe und keimendes Verlangen: „Like a virgin“. Im erneut einsetzenden harten Groove machen sie mit sexuell aufgeladener Gestik und Bewegungsmustern das Publikum an. Unverhohlen drängend angeln sie sich bunt glitzernde Ketten, die den Besuchern beim Eintritt umgehängt wurden. Was wie eine schwül-aufgeladene Atmosphäre zwischen Table-Dance und Erotikmesse wirken soll, kommt allerdings über eine bemühte Laszivität nicht hinaus. Das liegt weniger an den beeindruckenden Tänzerinnen, als an der Zaghaftigkeit und mangelnden Sinnlichkeit der Choreografie.
Das sicher nicht einfache Thema des amerikanischen Phänomens „Spring Break“, ein studentischer Massenrausch mit Alkohol, Drogen und Sex, wird zwar im Tanz, beim Licht und in der Soundüberwältigung immer wieder betont. Letztlich aber scheut die Choreografie im Kern vor der Entgrenzung, der rauschhaften Überwältigung zurück. Für die Sehnsucht nach ekstatischer Enthemmung, die selbst hinter einer solchen sozial akzeptierten Massensex- und Konsumschlacht steht, fehlt es am adäquaten Ausdruck. Zudem findet das kleine Ensemble auch im letzten Teil mit pufftauglichem Rotlicht und zeitlupenartigen Bewegungen kaum zur verschworenen Gruppendynamik, die eine solche Mädelsclique auszeichnet. Insgesamt verhakt sich Borrmann mit ihrer Choreografie zwischen effekthaschenden Elementen, vorrangig bei der Musik und Lichtführung, und artifizieller Verklemmtheit. Inhaltlicher – und historischer – Anspruch und künstlerische Umsetzung klaffen zwar auseinander, bieten aber gerade dadurch Raum für weiterführende Auseinandersetzung.
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