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München
EIN ABEND UNGELEBTER FANTASIEN
„Jephta’s Daughter“ von Saar Magal und Haggai Cohen Milo im Haus der Kunst
Das Stück beginnt, bevor es überhaupt richtig anfängt, mit dem Ausziehen der Schuhe. Einige ältere Herrschaften echauffieren sich und der Umstand, dass es keine adäquaten Sitzmöglichkeiten geben wird und man dazu auch noch mitmachen soll, verschlimmert dieses Übel noch. Doch Schuhe aus und durch, man hat im Gefühl, dass etwas Besonderes geschehen wird.
Die Grundlage, die Geschichte Jephtas und seiner Tochter, ist übersichtlich: Jephta zieht gegen die Ammoniter in den Krieg und schwört vor Gott, dass er ihm, sollte er den Krieg gewinnen, das erste zum Opfer gebe, was sein Haus verlasse. Leider ist das seine einzige Tochter. Die namenlose Tochter nimmt ihr Schicksal an, bittet jedoch um zwei Monate Schonfrist, um in den Bergen gemeinsam mit Freundinnen ihre Jungfräulichkeit zu beweinen. Doch was geschieht in den Bergen? Welche Lust erlebt sie dort? Geht es überhaupt um Sex oder nimmt sie einfach nur Abschied? Und was bedeutet Virginität? Aus der Geschichte geht nicht hervor, was in der Zeit in den Bergen passierte, weswegen das Stück reine Spekulation bleibt.
Doch einen Schritt zurück: Als sich endlich alle Anwesenden ihrer Schuhe entledigt haben und den Saal betreten, herrscht zuerst Verwirrung. Dort befindet sich ein Aufführungsraum, durch einen monströsen Vorhang konzipiert. In diesem ovalen Raum befinden sich die Tänzer, Sänger und Musiker und erwarten das Publikum. Sie bewegen sich stöhnend um die Gäste, halten vor ihnen, stellen sich hinter sie, grunzen um sie herum. Eine starke Nähe entwickelt sich und das Barfußsein offenbart sich als Mittel zum Zweck.
Der Krieg, den Jephta gewinnt, wird nachgestellt, in bombastischen Kostümen, die Uniform und Ballkleid zugleich sind – High Class eben. Die Akteure bewegen sich in tänzelndem Gleichschritt, der an Märsche und Pferdegetrappel erinnert. Und immer wieder das Gestöhne, das eine Mischung aus Aufregung, Erregung oder Sterben sein kann. Es läuft auf letzteres hinaus, auf die Opferung der Tochter Jephtas. Die Spannung gesammelt und aufgetürmt. Die vier Sänger zentrieren diesen Moment hin zu einem pompösen Höhepunkt: Der Vorhang fällt. Wortwörtlich. Tod, Aus, Ende. Der überlieferten Geschichte nach zumindest, denn was nun folgt, ist eine Nacht der Fantasie. Wir gehen zeitlich zurück zu den zwei Monaten der Tochter in den Bergen.
Das Publikum wird einzeln an der Hand genommen, begleitet von spontan personalisierten Melodien und auf einem unverschämt weichen Kissen, das Schaf und Kissen zugleich ist, im sich eröffnenden Raum platziert.
Das Schöne hierbei ist, dass ein jeder auf diesem Weg zu seinem Platz ein Kompliment erhält, wie um das Schuheausziehen wieder gutzumachen. Was würde man tun, hätte man nur noch zwei Monate zu leben? Ein Tänzer beispielsweise wäre gerne für einen Abend Dirigent eines renommierten Opernhauses, der andere gerne Arielle. Diese Szenen sind mit einer herrlichen Situationskomik gespickt, da das Publikum direkt angesprochen wird und der Sänger im Meerjungfrauenkostüm dazu das Titellied des Disneyfilms singt („Ein Mensch zu sein“). Ein weiterer Tänzer würde gerne wissen, wie es sich anfühlt, eine Frau zu sein. Dieser Aufgabe stellen sich die weiblichen Tänzerinnen sofort und kleiden ihn ein. Grazil beansprucht er die Bühne für sich. Im nächsten Schritt wird er beim Sex als Frau gezeigt und natürlich ist der Akt degradierend, da es hart von hinten kommt und anschließend nur ein Tuch als Umarmung dient. Was bedeutet es eine Frau zu sein und sexuell aktiv dazu? Am durchdringendsten zeigt dies eine Szene, in der eine der acht TänzerInnen monologisiert. Sie wäre in ihrer Jugend lieber gern ein Junge gewesen, doch war einer auferlegten Mutprobe nicht gewachsen und wurde somit aus der Jungsgruppe ausgestoßen. So hatte sie als Tomboy keinerlei Chancen bei den Jungs und dem ersehnten Verlust ihrer Jungfräulichkeit – diese interessierten sich immer nur für die schönen, schlanken Ballettänzerinnen, die mit ihren Spitzenschuhen umhertanzten und alle verzauberten.
Und da es ja um einen Abend der Fantasie geht, sieht man jene grazilen, halbnackten Ballettänzerinnen einen Spitzentanz durch den Raum vollführen. Das ist so voller Erotik und Schönheit, dass man sich fast nicht mehr auf dem Lammkissen halten kann. Dazu kommt noch die ungewöhnliche Aufführungsform, die eine klassische Beobachterposition ausschließt, da man mittendrin ist in den ungelebten Fantasien, in den Bergen. Als Zuschauer ist man Teil dieses Stückes, ja Requisite sozusagen und fühlt sich in manchen Szenen als Voyeur dieser Obszönitäten.
Das Ende des Stückes ist ein Konglomerat vieler Abschiede vom Leben verschiedenster Töchter. Man weiß nun nicht mehr, wohin man gucken soll. Die Berge verschlucken alles und es gipfelt in einem orgastischen und höchst musikalischen „Kawumm“. Wir alle sind die Tochter ohne Namen, gefangen in unserer Fantasie. Da hilft selbst das spätere Waschen der Füße nicht, um sich zu beruhigen.
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