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München
VERDRÄNGUNG IST NICHT
Zufit Simon und Mey Seifan beim Rodeo-Festival in München
Es ist eine einzige Bewegung, auf der Zufit Simon ihr neues, abendfüllendes Stück aufbaut: das Winken mit der Hand. Wie Kinder sitzen ihre beiden Tänzer, Eva Svaneblom und Nicky van Oppen, und die Choreografin selbst auf Holzstühlen für Kindergartenbesucher und schauen unbewegt im Münchner Theater i-camp das Publikum an, solange bis van Oppen sich erhebt und den Bewegungsmodus startet, mit leichtem Grinsen im Gesicht. Minutenlang dauert dieses Winken; und es beschert dem Zuschauer nichts anderes als ein Wechselbad zwischen Himmel und Hölle. Bereits nach wenigen Minuten langweilt man sich unendlich, zumal es auch nichts bringen würde, zurückzuwinken. Probiert hat es ja der eine vor einem. Gesehen wurde er nicht. Einseitig ist er, der Pakt zwischen dem zeitgenössischen Performer, der regungslos gucken und machen darf, und dem Zuschauer, dem alles vorenthalten wird, nach was er sich heimlich sehnt: Virtuosität, Unterhaltung, Bewegungsrafinesse.
Und dennoch, wie immer, bei solchen Übungen, wird man belohnt. Endlich gesellen sich nacheinander die Damen zu van Oppen, winken zwar auch noch, formieren sich dann aber zu einem reduzierten Pas de Trois, bis plötzlich jener transformierende Moment eintritt, weswegen sich alles lohnt: Auf den Trümmern der scheinbar ewig dauernden und auf die Nerven gehenden Entleerung der Geste des Winkens als zentralem künstlerischen Mittel erhebt sich ein trauriges Familienbild von Vater, Mutter und Kind das Abschied voneinander zelebriert. Der Einzug der Emotion, die dann auch wieder rasch verabschiedet wird, indem das unbewegliche Gesicht wieder aufscheint, verleiht dem ganzen Getue Sinn. Zufit Simons Stück „Piece of Something“ ist in den folgenden 45 Minuten dann genau das: Das Entstehen und Vergehen gefühlvoller Bilder von Kinderfreundschaften und Familie, vom alleine sein und wütend erden, und deren Passage. Denn der Grundton, das zugrunde liegende Tremolo ist ein permanentes Zucken und Ruckeln des gesamten Körpers, das die Performer das nahezu gesamte Stück durchhalten. Am Ende, nach einem pubertären Akt der Mobiliar-Zerstörung, hocken sie wieder auf den noch übrig gebliebenen Stühlchen, nur ist der Tisch jetzt gewachsen: Sie sind erwachsen geworden und sitzen immer noch auf kleinen Stühlen. „Piece of something“ wird so zu einem nachdenklich machenden Stück über Menschen, die als Große immer noch nicht mit der Welt zurechtzukommen scheinen.
Das Gegenteil zelebriert, wenn man so will, die Syrerin Mey Seifan im Anschluss. Sie präsentierte bei RODEO die Uraufführung ihres zweiten Teils von „Zerstörung für Anfänger“ – eine Arbeit, die ausschließlich auf aufgeschriebenen Träumen von Menschen in Syrien und ihr selbst beruht. Eine solche Ausgangslage versucht geradezu mit den harten Realitäten von Krieg, Zerstörung, Angst, Tod und Verlust umzugehen, in dem sie mit der Psychologie und Kunst einen Freiraum erschafft, in dem wirklich alles zum Szenenbild werden darf – realistisch anmutendes und irrational Surreales. Und das Gute ist: Man muss hier auch nichts verstehen, wenn man nicht will, und fühlen darf man sich dabei in bester Gesellschaft: Mitten auf der Bühne hat Seifan einen arabisch aussehenden Mann im Sessel platziert – ein Beobachter, der den inneren Traumbeobachter symbolisiert, aber auch Stellvertreter für den Zuschauer ist. Mit ihm sieht man, wie ein Jesus in Ritterrüstung herumstolziert, und wie ein Don Quijote zwei Frauen gleichzeitig sinnlich liebt, wie eine andere mit roten High Heels und behängt mit Gardinen zwischen Gegenständen herumstöckelt und mit Kreide Konturen nachmalt. Die andere wandelt sich zur Meerjungfrau mit Rotperücke. Szenen aus den Nachrichten, die man kennt, werden angerissen und schweben wieder davon. Ein Toter, dessen beide Frauen sich darum streiten, ob mit dem zu kurzen Tuch sein Kopf oder seine Füße bedeckt werden sollen. Zum Schluss fällt ein Schuss. Mey Seifan kauert hinterm Sofa und zielt auf die Frau, die versucht, von einer Seite der Bühne zur anderen Seite zu huschen. Verdrängung ist nicht.
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